Chefsache
morgens, welcher Idiot wollte um diese Zeit etwas von ihm?
Übermüdet schlurfte er zur Tür und drückte den Öffner, bevor er daran dachte
nachzufragen, wer dort war. Ein Wunder, dass er den kleinen grünen Knopf
überhaupt gefunden hatte; seit er hier wohnte, hatte lediglich der Postmann bei
ihm geschellt, vielleicht ein halbes Dutzend Mal in knapp vier Monaten.
Benjamin ließ die Tür angelehnt und
lugte durch den Spalt, während er den leisen Schritten lauschte, die zu ihm in
den zweiten Stock hochstiefelten. Für einen irrationalen Moment glaubte er, es
wäre tatsächlich der Postbote, denn das Erste, was er sah, war ein riesiger
Karton. Dann schob sich Timo in sein Blickfeld, der offensichtliche Mühe hatte,
seine unhandliche Last zu halten. Es wäre unnett, ihn damit im Flur stehen zu
lassen …
Innerlich seufzend schob Benjamin die
Tür weit auf und starrte auf seinen Chef, der den Karton schwer atmend vor ihm
abstellte. Keine Spur des sonst üblichen jungenhaften Schalks war in seinem gut
aussehenden Gesicht zu erkennen. Im Gegenteil, Timo wirkte niedergeschlagen,
sehr müde und fast schüchtern, als er sich ihm zuwandte.
„Da war Licht an gewesen und anhand der
Klingelschilder abgeschätzt, dass es bei dir sein müsste. Bin froh, dass es
stimmte“, murmelte er. „Ich wollte dir nur deine Sachen bringen.“
Ungläubig starrte Benjamin auf den
Karton.
„Warum zur Hölle fährst du mitten in der
Nacht ins Büro und sammelst meine Klamotten ein? Wolltest du das Porto sparen?
Oder hast du es so eilig, mich endgültig loszuwerden? Hattest du vielleicht
Angst, ich komme morgen früh und mache dir vor versammelter Mannschaft eine
hässliche Szene?“
Timo krümmte sich leicht bei Benjamins
ätzendem Tonfall.
„Natürlich nicht“, stammelte er. „Ich
konnte nicht schlafen und hab darum im Büro die Sachen sortiert und kam hier
vorbei und als ich das Licht sah, dachte ich, oder hoffte vielmehr, ich könne
mit dir reden. In Ruhe alles erklären, was ich dir eben nicht sagen konnte.“
Der flehende Ausdruck in Timos Augen
ließ Benjamins Widerstand schmelzen. Mit einem weiteren Seufzen bückte er sich
nach dem Karton und forderte anschließend Timo mit einem Nicken auf, ihm zu
folgen. Es gab keinen Grund, die Nachbarn zu verärgern, nur weil sein Ex-Boss
nächtlichen Gesprächsbedarf hatte. Um ihm möglichst wenig Angriffsfläche zu
bieten, blieb Benjamin allerdings im Flur stehen und verschränkte die Arme,
sobald der den Karton abgestellt hatte.
„Also?“, fragte er herausfordernd. Statt
einer Antwort zog Timo einen Zettel aus der Jackentasche und reichte ihn
Benjamin an. Es war ein Email-Ausdruck, das Datum verwies auf vorgestern.
„Hi
Timo, echt besch … Situation, ich beneide dich ganz
bestimmt nicht. Eine Schande ist das, überall Personal zu streichen und
zugleich höhere Leistung zu fordern, am besten bei weniger Gehalt! Zu deiner
Frage: Ja, ich suche immer noch nach einem Ingenieur. Herrn Larisch hab ich auf
dem Meeting letzte Woche kurz kennengelernt und hatte einen positiven Eindruck.
Seine Unterlagen sehen auch ordentlich aus und das ihm praktische Erfahrung
fehlt, lässt sich verschmerzen. Dafür ist er ja flexibel und auch für
Auslandseinsätze zu haben. Sag mir Bescheid, wenn du mit ihm geredet hast, er
kann hier jederzeit einen Vorstellungstermin vereinbaren.
Reinhold
B.
Stirnrunzelnd starrte Benjamin auf das
Blatt Papier in seinen Händen. Es könnte eine Fälschung sein, frisch von Timo
zusammengetippt, aber wozu der Aufwand? Nein, das musste echt sein. Er konnte
sich an Herrn Becksdorf erinnern, der diese Worte
geschrieben haben musste, das war der Direktor einer Partnerfirma.
„Ich war offen gestanden erleichtert,
als ich von oben die Order bekam, einen Mann einzusparen“, sagte Timo leise.
„Du hast mich wochenlang angehimmelt und bist so was von mein
Typ … Aber ich wollte nie wieder etwas mit jemandem anfangen, mit dem
ich zusammenarbeite, und schon gar nicht mit einem Angestellten, verstehst du?
Die Möglichkeit, dass du zu Reinhold Becksdorf rüberwechselt , wäre für mich die Ideallösung. Du könntest
praktisch sofort bei ihm anfangen, er sucht händeringend qualifiziertes und vor
allem flexibles Personal. Es wird weh tun , dich zu
verlieren, du leistest wirklich gute Arbeit, darum hätte ich dich auch nicht
fortgeschickt, wenn es keine Order von oben wäre, sondern mich so gut wie
möglich von dir ferngehalten. Irgendwann hättest du einen anderen
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