Chemie der Tränen
zu bezahlen hatte, riss er sich für jedes Glas einen Knopf ab, erst von der roten Weste, dann vom Mantel, um sie am Ende des Abends vom Wirt wieder einzusammeln.
Da dies der Mann war, den ich damit beauftragt hatte, meinen Percy zu retten, wollte ich nicht hören, dass die alte Sägemühle zur ›hinterletzten‹ Gegend des ganzen Bezirks gehörte. Der Märchensammler schien dies zu spüren, sagte er als Nächstes doch, dass er sich keinen besseren Ort vorstellen könne, um im Geheimen ein hochkomplexes Werk ausführen zu lassen. Schließlich gehe man allgemein schon davon aus, dass Sumper die Einsamkeit auch für den verbotenen Handel mit blasphemischen Kuckucksuhren genutzt hatte.
Was mich keineswegs tröstete. Ich fragte ihn, wie eine solche Uhr denn wohl aussähe.
Monsieur Arnaud konnte da auch nur spekulieren. Allerdings, fuhr er fort, würde es vollauf zum gottlosen Charakter des Uhrmachers passen. Und was seine technischen Fähigkeiten anginge – nun, sooft Sumper im Gespräch Themengebiete streifte, auf denen Arnaud sich bestens auskannte – etwa das der Metallurgie –, habe sich Sumper keineswegs als ungebildet erwiesen. Ganz im Gegenteil.
War er denn solch ein Meister, wie er es zu sein rühmte?
Arnaud gab keine Antwort.
Stattdessen erzählte er, dass Sumpers alter Vater so ignorant wie nur irgendein Sägemüller und ebenso gewalttätig wie sein Sohn gewesen war. Des Vaters größtes Vergnügen hatte darin bestanden, in diversen Gaststätten die aufgetragenen Zinnteller zu Metallknäueln zusammenzuballen.
Beim berüchtigtsten Vorfall befahl er dem jüngeren Sumper, nicht zu einer Hochzeit zum Tanzen zu gehen, sondern sich um die Geschäfte der Sägemühle zu kümmern. Mir seien bei der Mühle doch gewiss die Stämme aufgefallen, die längst geflößt gehörten, nun, die lägen noch dort, weil Sumper die Mühle in die Hände von Kropotkinisten gegeben hatte, die sich auf rein gar nichts einigen konnten. Die Stämme hätten schon Wochen vor meiner Ankunft den Fluss hinunterbefördert werden sollen. Dann wären sie zu Flößen von hundert Metern Länge geordnet worden – neun Stammlängen breit am Heck, drei am Bug. Um den Bau eines solchen Floßes zu beaufsichtigen, hatte der Vater seinen Sohn Heinrich einst von der Hochzeit nach Hause gesandt.
Das war der Tag, an dem der Sohn beschloss, ›an Bord zu gehen‹, wie es damals hieß. Soweit bekannt hatte sich der junge Sumper weder vom Vater noch von der Mutter verabschiedet und das Floß (der Gendarmerie zufolge), statt zum gewohnten Bestimmungsort, den Rhein entlanggeschippert (was, wie ich bald herausfand, geographisch unmöglich war). Mit Geld, das er von Gott weiß wem hatte, ging er irgendwo an Land und schaffte es, sich nach England durchzuschlagen, wo er, wie er behauptete, außergewöhnlich gute Lehrer fand.
Man hatte nicht vergessen, dass Stämme gestohlen worden waren, was seine Eltern ärmer machte als je zuvor. Vielleicht beglich er die Schuld mit englischem Gold, doch wer will das schon sagen? Später hieß es, man habe im Postamt einen Brief aus England gesehen. Natürlich hatte der nur von den Eltern geöffnet werden dürfen, doch als sie beide zehn Jahre später starben, fand der Nachlassverwalter keinen Brief, nur ein unverändertes Testament.
Und so erbte der Sohn die Sägemühle, obwohl er sich so gar nicht wie ein Sohn benommen hatte.
Während unserer Unterhaltung bestellte sich Arnaud unentwegt, wonach ihm der Sinn stand. Er zerteilte weißen Käse in immer dünnere Scheiben, und ich sah ihn mit seinen Rattenfängerzähnen daran nibbeln.
Arnaud sagte, niemand sei besser in der Lage, mir zu helfen, als er selbst, um dann anzudeuten, dass er weit einflussreicher sei, als es vielleicht den Anschein habe.
Aha, dachte ich, während er sich ein weiteres kleines Bier bestellte, also ist er gewiss ein Spion für irgendeinen Baron. Dann begann er, mir etwas von Frau Helga zuzuflüstern. Sollte er tratschen, so viel er wollte, nur sagte ich ihm rundheraus, dass die Frau für mich keinerlei Bedeutung habe. Natürlich, offenbarte Monsieur Arnaud, sei es Frau Helgas tumber Mann gewesen, der den kleinen Carl mitgenommen hatte, um ihn hautnah den ›Sieg‹ der Arbeiter in der sogenannten Revolution erleben zu lassen. Woraufhin er vor ihren Augen erschossen worden war, und ehe die Kugel sein Herz durchdrang, hatte sie das Bein des Knaben ernstlich verletzt.
Da er dem grausamen Schlag der Märchensammler angehörte, fand er größtes
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