Chemie der Tränen
Vergnügen an einem solchen Desaster. Er schürzte die Lippen. Er säbelte Käse. Ich aber ärgerte mich derart, dass ich der Geschichte nicht mehr folgen konnte, bis Mutter und Halbwaise schließlich nach Furtwangen kamen, um einen Onkel aufzusuchen, der einmal nett zu ihr gewesen war. Leider, fuhr der Märchensammler fort, sei der Onkel einen Tag vor ihrer Ankunft mitten auf dem Marktplatz tot umgefallen.
Leider? – fragte ich mich im Stillen. Sind dies nicht genau die Widrigkeiten, die eure Gilde über alles schätzt? Das Kind eine Waise, das Kind stirbt, das Kind im Wald verirrt. Das Kind muss bis an sein Lebensende humpeln.
Niemand ist grausamer als ein kleiner Mann. Er erzählte, wie Helga Zuflucht bei einem Priester fand, und ich dachte, dem Himmel sei Dank, aber natürlich warf der Priester sie wieder hinaus.
Ich dachte, was für ein erbärmlicher kleiner Mistkäfer, der unaufhörlich das Elend anderer Menschen sammelt.
Dann oder kurz darauf dachte ich schließlich: Zur Hölle mit euch. Glaubt nicht, dass ich die Rechnung begleiche. Ich verließ den Gasthof, aber natürlich durch die falsche Tür, und hatte folglich prompt keine Ahnung, wo ich mich befand. Wieder verirrt, immer verirrt. Ich Tölpel. Der kleine Kerl spürte mich auf und brachte mich heim; seine Mutter war eine Katze. Was geschieht, wenn wir sterben? Wer wird je die Wahrheit erzählen?
Henry & Catherine
Ich war ein reicher Mann, schrieb Henry Brandling – und Catherine las es –, weshalb ich die üblichen Zudringlichkeiten zu erdulden hatte. Doch meine früheren und heutigen Ängste waren nichts im Vergleich zu dem, was diese arme Deutsche erleiden musste.
Catherine wusste, Henry meinte Frau Helga.
Sie und ich, schrieb Henry Brandling 1854 , wir beide wissen, wie ein Kind das Herz zum Singen bringt, wie es die Adern verknotet und unablässig Furcht und Beklommenheit weckt. Ich hatte sie dabei beobachtet, wie sie ihre Hand auf Carls Schulter legte, hatte sie seinen goldenen Schopf streicheln sehen. Das war etwas, was Monsieur Arnaud nicht wissen konnte.
Wie überheblich, dachte Catherine Gehrig einhundertsiebenundfünfzig Jahre später in London, das Gesicht vor Wut und Cognac verzerrt. Wie durch und durch erbärmlich, diese herablassende Diskriminierung: Ist denn die Liebe zu einem Kind besser als die Liebe zu einem Erwachsenen? Wie kann das sein?
Ich warf das Heft quer durchs Zimmer. Es flog in die Küche, wie Herbstlaub zerstoben die säurehaltigen Seiten.
Soll Matthew ruhig sehen, was er mir angetan hat.
Nach der Katastrophe mit dem Buch blieb nur eine Seite unbeschädigt, eine Quittung, die Sumper mit
Monsieur
Sumper betitulierte. Sie bescheinigte den Kauf einer größeren Menge Silber.
Ich fand es unerträglich, dass Henry von diesen Gaunern derart ausgenommen wurde, trotzdem war es verletzend, wenn auch verständlich, dass er fortlaufend diesen Unsinn über Kinder verbreitete. Er behauptete zwar nicht direkt, die elterliche Liebe sei anderen Arten der Liebe überlegen, doch war er zweifellos dieser Ansicht. Natürlich wünschte ich ihm nichts Schlechtes. Er tat mir leid. Nur stimmte es im Allgemeinen, dass diese Kinderliebhaber taub und blind für den wahrscheinlichen Ausgang solcher Beziehungen sind, obwohl sie so oft auf Heroin, Selbstmord, völlige Entfremdung oder Langeweile hinauslaufen. All diese grauenhaften Auseinandersetzungen, die sie erwarten, dabei haben sich die Armen doch nur die vollkommene Liebe erhofft.
Wenn ich Männer in Matthews Alter oder älter sah, hasste ich sie, weil sie noch lebten. Dabei hatte ich nie erwartet, dass wir ewig leben würden, ganz im Gegenteil. An jedem Morgen, der mir Matthew bescherte, hielt ich ihn fest, schloss ihn in mich ein wie ein Gebet, füllte meine Lungen mit ihm, seine Beine zwischen meinen Beinen, so streichelte ich ihn – sollte ich ein anderes Wort benutzen? – nein, würde ich noch deutlicher, klänge ich vulgär – streichelte ihn ganz sacht, und seine Nase ruhte über meinem Auge, genau hier, gleich neben diesen immens komplexen Produktionsstätten, den Tränendrüsen, ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich jeden Morgen, jede Nacht.
Ich hatte meinen Vater sterben sehen. Hat man Tage auf der Intensivstation verbracht, vergisst man nicht so schnell, wie ein Körper funktioniert, wie er versagt. Später kann man sich ohne weiteres das sauerstoffreiche Blut vorstellen, die Farbe der Säfte, die uns durchfluten, mich, ihn. Ich hatte gesehen, wie Matthews
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