Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
Vom Netzwerk:
aneinandergedrängte Häuser mit spitzen Dächern, vorspringenden Traufen und hölzernen Treppen sowie ein in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne getauchtes, wundersam gelbes Gasthaus, das nun golden leuchtete.
    »Bis zum Krug ist es nicht allzu weit, Herr Brandling«, brachte er schüchtern vor, und endlich verstand ich, warum er mich den ganzen Tag hatte warten lassen.

4
    Der Sammler alter Gruselgeschichten war kaum mehr als ein Däumling, eine winzige Kreatur mit einem mächtigen Lockenschopf graumelierter Haare. In der Sägemühle hatte er nicht sonderlich exzentrisch gewirkt, hier im Dorfkrug aber war er eine überaus ungewöhnliche Erscheinung, weichhäutig, halb Mann, halb Kind, der Kopf in vollkommener Proportion zum Ganzen.
    Hatte er in der Sägemühle noch einen völlig entspannten Eindruck gemacht, wirkte er im Dorfkrug nun nervös wie ein Vogel mit eifrig pochendem Herz, so als würde alles, selbst ein Weizenkorn, tödliche Gefahr bedeuten. Vielleicht sah er Gewalt in den Schnapsflaschen lauern, vielleicht lag es an seinen protestantischen Knochen in katholischer Umgebung oder am dichten Qualm, an den furchteinflößenden Physiognomien – Juden und Deutsche, die Karten spielten und sich in so vielen Sprachen stritten, dass man sie kaum zu zählen vermochte.
    Die Wirtin, eine dieser fülligen, stets geschäftigen kleinen Frauen, wie man sie von alten Stichen kennt, begrüßte Monsieur Arnaud recht herzlich, suchte uns einen Tisch und brachte Käse und zwei kleine Bier, ehe wir auch nur fragen konnten. Ich sagte ihr, wie nett sie sei.
    Arnaud rückte näher an mein Ohr.
    Was ich denn von Herrn Sumper wisse? Warum hatte ich ihm meine Pläne gebracht? Warum nicht einen Karlsruher Uhrmacher beauftragt, der diese Art Arbeit doch gewiss verlässlicher verrichtete?
    Ich dachte, holla, immer langsam. Ich brauchte mir meine Zuversicht nicht nehmen zu lassen.
    Ich fragte im Gegenzug, wie er in den Umkreis von Sumper geraten sei.
    Er träufelte sich ein wenig rasch verflüchtigendes Öl ins Taschentuch und betupfte sich damit die Knorpelnase. Im Kerzenlicht schimmerten seine Nasenlöcher blutrot.
    Warum, fragte er, habe ich Sumper nicht nach Empfehlungsschreiben gefragt?
    Ich mochte naiv sein, aber ich ahnte, worauf er hinauswollte: Er gab mir zu verstehen, dass ich mich zur leichten Beute einer Bande von Verbrechern gemacht hätte. Und er wollte mich retten, wenn auch zu einem Preis.
    Beim Reden beugte er sich vor, den Blick nach unten gerichtet wie eine Henne, die sich einen Wurm besieht.
    Hätte es mich denn nicht beunruhigt, als ich erfuhr, wie Herr Sumper vor Jahren aus dem Dorf fliehen musste?
    Er schaute mich nicht an, nippte mäkelig an seinem Bier und sagte, er hätte mich nicht für einen von der leichtsinnigen Sorte gehalten.
    Ich versicherte ihm, dass ich dies auch nicht sei.
    Dennoch, fuhr er fort, als wollte er mich entschuldigen: Herr Sumper ist ein bedeutender Mann. Viele Leute hätten Angst, sich gegen ihn zu stellen. Und es sei sehr, sehr schwer, die Wahrheit herauszufinden.
    Er warf einen raschen Blick über die Schulter, als fürchtete er, Opfer eines Übergriffs zu werden, während es in Wahrheit doch allein seine Absicht war – sein musste –, mich zu seiner willigen Beute zu machen.
    Ob ER denn keine Angst habe?
    Aber nein. Märchensammler waren offenbar die gefährlichsten Situationen gewohnt. Die brutal aussehenden Kerle hier im Gasthof, sie seien es, die Sumper fürchteten. Nach der Rückkehr des Uhrmachers aus England sei er recht ›herrisch‹ aufgetreten und hätte behauptet, ›besser qualifiziert‹ zu sein, was all jene erstaunte, die zuvor gar nicht auf den Gedanken gekommen waren, dass man als Uhrmacher ›qualifiziert‹ sein müsse, ebenso wenig wie es eine Qualifikation brauchte, um einen Esel zu reiten oder den Darm zu entleeren.
    Wäre er nicht so brutal gewesen, hätte er wohl nicht überlebt, aber Herr Sumper war nun einmal Herr Sumper. Er ging nie zum Tanz, ohne sich ein Dutzend schwerer Eisenäxte, wie man sie zum Holzhacken benutzte – sogenannte Speidel –, in die tiefen Taschen zu stopfen, weshalb ihm selbst die suspekten Steinbrucharbeiter aus dem Weg gingen. Nichts machte Herrn Sumper glücklicher, als vierundzwanzig Stunden ohne Pause zu tanzen oder vielmehr bloß so lange innezuhalten, wie die Unterbrechungen zwischen den Tänzen nun einmal dauerten. Währenddessen trank er dann unaufhörlich ein Viertel Wein ums andere.
    Statt sich zu merken, was er

Weitere Kostenlose Bücher