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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Augen vor Verlangen schmal wurden, das geliebte Gesicht, den großgewachsenen, rauen, zärtlichen Körper, sein hartes Seidenweich, ich hätte ihn austrinken können.
    Was unseren ekstatischen Pragmatismus anging, wurden wir beide getäuscht. Wir besaßen keine Seelen, aber wir lebten im Augenblick, einer Meereswelle gleich, Tieren gleich, hätten wir gesagt, so vollkommen waren wir in unseren Augen und brannten vor Liebe. Wie unfair, dass wir keine Seelen hatten.
    Unweit von Beccles, im Sommer, als das frühe Licht silbern über die Dämmfolie spielte, wollte er mich von hinten und schmiegte dabei seine Hände an meinen Bauch, weshalb ich dachte, er will, dass ich schwanger werde.
    Die eigenen Kinder hatte er alle wohlbehütet in Internaten untergebracht, wohin er ihnen Liebesbriefe schrieb. Manchmal verlor ich ein Wochenende, wenn er sie zum Arbeiten mit zur Scheune nahm, zwei kostbare, aus meinem Leben herausgetrennte Tage. Ich liebte ihn dafür, dass er sie so liebte, manchmal allerdings hielt ich sie für verzogene Gören. Als der mathematikbegabte Sohn klagte, er fände Beccles langweilig, war ich empört und doch auch sehr, sehr glücklich, weil wir das Liebesnest wieder für uns haben konnten.
    Vielleicht, dachte ich, war Matthews Liebe für seine Söhne die bessere Liebe – manchmal. Allerdings dachte ich noch vieles mehr. So träumte ich zum Beispiel, dass unterm Stallboden eine weibliche Leiche vergraben sei. In meinem Traum hatte ich sie ermordet und dann vergessen.
    Ich hätte Henry Brandlings Notizheft niemals durchs Zimmer pfeffern dürfen. Niemand, nicht einmal Matthew, vor allem nicht Matthew, hätte mir so etwas zugetraut. Niemand würde glauben, dass eine Konservatorin, egal unter welchen Umständen, zu Derartigem fähig war. Es flog auf, flatterte, dem Zugriff jeder technischen Rettungsmaßnahme entzogen, und brach noch im Flug auseinander. Es starb mitten in der Luft, und als es auf den Boden aufschlug, die vielen Seiten wie Mottenflügel, weinte ich, da ich wusste, was ich getan hatte, nicht als Konservatorin, sondern als armselige, betrunkene Frau, die wütend auf einen anständigen Mann war.
    Ich fand den Wodka, wo ich ihn vor mir selbst versteckt hatte. Ist bestimmt schon nach Mitternacht, dachte ich. Hätte ich doch bloß Kokain im Haus! Zu gern hätte ich mich halb zerstört, mich Lust und Verfall hingegeben, und während ich den Wodka trank, fiel mir ein, dass Herr Brandling sich nicht die Mühe gemacht hatte, den Sinn der Kupferkabel zu erklären, weshalb ich vielleicht nie erfahren würde, wozu sie dienten. Dann aber dachte ich, Henry, du bist wirklich blöd wie Bohnenstroh. Also ehrlich, was für ein derart ungewöhnlicher Mann kommt zu einer Sägemühle im Schwarzwald und vergleicht KUPFERKABEL mit Zeltleinen, die vom Dach zur Erde führen, wo sie in KÄSTEN enden, und fragt keine Menschenseele (bislang jedenfalls nicht), welchem Zweck diese Kabel eigentlich dienten.
    Ich erinnere mich an dich, mein Matty T. Ich erinnere mich daran, wie ich dich geliebt habe, erinnere mich an deine grauen Augen, erst schmale Schlitze, dann weit offen, an deinen Mund, diesen geliebten rosigen Tunnel. Du hattest keine einzige Füllung im Mund, meiner dagegen war voll mit schwarzem Amalgam. Ich erinnere mich, wie deine Schreie durch meinen Körper pulsierten. Ich erinnere mich, wie du mich in der Waterloo Station gehalten hast, wie ich schluchzte und schrie. Ich erinnere mich, wie es dir gelang, dass ich still wurde und ruhig. Ich erinnere mich, wie du mich im Taxi sitzen gelassen hast und wie ich dachte, ich würde sterben.
    Ich vergesse, dass du tot bist. Ich vergesse, dass Henry Brandling tot ist. Ich fege seine zerbröselnde Asche mit dem praktischen, kleinen Handfeger und dem Kehrblech auf. Wie clever diese Gerätschaften doch konstruiert sind. Und was habe ich für ein banales Leben gelebt, in dem ich mich über Handfeger und Kehrblech freute, ohne zu ahnen, dass ich damit einmal Henry Brandlings Knochen und Asche auffegen und in den Mülleimer kippen würde.

2
    Hier ist, was sich retten ließ von Frau Helgas Geschichte, erzählt von Henry Brandling und auf meinem Küchentisch in Nordlambeth im April 2010 wieder zusammengesetzt.
    Frau Helga hatte noch keine zwei Tage im Gasthof gearbeitet, als der Priester (sagte), sie könne nicht länger unter seinem Dach wohnen, (da) sie ein Schankweib sei. Falls der Priester sich erinnern konnte, hätte er wissen sollen, dass er sich nicht korrekt verhalten

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