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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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noch tiefer in den Kisten herumwühlen und weiß Gott was finden, etwa den einbalsamierten Leichnam von Percy Brandling, dem der Kiefer gebrochen worden war, damit es aussah, als ruhe er ›in Frieden.‹
    Heather sollte dankbar dafür sein, dass ich es auf mich nahm, Fett und Öl zu beseitigen, die ins hohle Innere der Stangen gesuppt waren. Sie zu säubern würde ein Albtraum werden, doch machte ich die Arbeit gern, wollte es mit dünnen Messingstäben versuchen, an deren Spitze ich einen Wattebausch befestigte. Und wenn der Amtsschimmel des Swinburne mir in all seiner viktorianischen Weisheit diese Aufgabe gewährte, hielte dies vielleicht auch meinen Kummer im Zaum.
    Ehe ich mit dem Reinigen anfangen konnte, würde ich das Messingspannfutter am Ende der Glasstangen entfernen müssen. Das Spannfutter passte zu einem noch unbekannten Mechanismus, der die Stangen in eine Rotationsbewegung versetzte. Diverse Generationen banausenhafter Pragmatiker waren vor mir am Werk gewesen, hatten Schellack aufgebracht, Gips oder Silikon, und diese ungeeigneten Substanzen zu entfernen, würde jede Menge Phantasie, Zeit und Geduld erfordern.
    Bitte, überlasst mir diesen Job.
    Bitte, stellt euch nicht quer.
    Allein werde ich hiermit fertig, und ich arbeite, bis ich entweder geheilt oder selbst tot bin.
    Bei der ersten Glasstange hatte es jemand mit Pech versucht, wie Amateure es heutzutage sicher mit Sekundenkleber versuchen würden – soll heißen, sie hatten das schwarze Zeug aufs Glas gepappt, die Stange dann ins Spannfutter gerammt und sie festgehalten, bis das Pech hart geworden war. Der Thermoschock hatte das Glas beschädigt, weshalb die reparierte Stange letztlich ein wenig von der Originallänge abwich – nur einige Millimeter, doch dürfte das genügen, um die Instandsetzung zu einer heiklen Angelegenheit werden zu lassen.
    Ich rief meine E-Mails ab und las: BETR. VERFAHRENSANHÖRUNG .
    In den Papierkorb.
    Ich blieb auf meinem Drehstuhl sitzen, begutachtete die Glasstange und wartete darauf, dass es zehn Uhr wurde, denn dann öffnete der Weinladen und ich konnte mir eine kleine Flasche Wodka kaufen.
    Wegen des Alkohols oder der gestohlenen Notizhefte machte ich mir keine Sorgen, auch wenn mich beides den Job kosten konnte. Stattdessen machte ich mir ins Hemd wegen einer Bagatelle – ich hatte angefangen, ohne die Verfahrensanhörung abzuwarten.
    Soll heißen, ich wollte keine Anfrage an den Abteilungsleiter richten, sondern gleich zu Glenn gehen, dem Hausmeister, der mir bestimmt ahnungslos Schweißdrähte und Wattebäusche aushändigen würde.
    Ich fand Glenn in seiner Höhle, und während er Schweißdrähte und Wattebäusche ›aufspürte‹, ging ich zum Weinladen, wo mir gesagt wurde, dass London die trockenste Hauptstadt der Welt sei. Offenbar bekamen wir eine Entsalzungsanlage. Ich zeigte mich erstaunt, ließ die Flasche in meiner hübschen Handtasche verschwinden und ging wieder durch die Security.
    Um zehn nach zehn sah ich mir auf meinem Arbeitsplatz auch die restlichen verstaubten Glasstangen an. Beim ersten Mal hatte mein jetziger Zahnarzt bestimmt ganz Ähnliches in meinem Mund gesehen – das Resultat der Arbeit von fünfzehn verschiedenen, mittelmäßigen Technikern über einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Ich fühlte, wie mir der Wodka brennendheiß durch die Kehle rann und das Blut erhitzte.
    Ich dachte, so also hat mein Vater sich gefühlt, jeden Tag. Deshalb wurde ich ins Internat nach High Wycombe abgeschoben. Nachdem er gestorben war, entdeckten wir die ausgefallensten Verstecke für seine Flaschen, sorgsam ausgetüftelte, kleine Särge, die er gebaut hatte, wenn er angeblich unter den Bodendielen oder in der Decke ›Kabel verlegte‹ oder eine Zwischenwand im Vorratsschrank einzog. Er war so ein gründlicher, geduldiger Mann gewesen, der es nicht verdient hatte, bloß Batterien in Uhren einzulegen oder Armbänder auszutauschen, weshalb ich alles getan hätte, damit er meinen Museumsjob bekam und seinen unermüdlich forschenden Verstand auf einen rätselhaften Mechanismus richten konnte. Es muss eine schreckliche Qual für ihn gewesen sein, dass ich das Leben führte, das er sich selbst wünschte.
    Manchmal ging er zu Vorträgen in der Guildhall und schleppte den Redner hinterher zu uns nach Hause – was musste er doch für ein trauriger, einsamer Mensch gewesen sein. Es sollte lange dauern, bis ich begriff, dass ich, seine Tochter, der ödipale Sohn für ihn gewesen war.
    Waschbenzin hilft

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