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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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verantworten haben. Er verbeugte sich, als bedanke er sich für das Vergnügen, mit ihr getanzt zu haben.
    Natürlich waren die Papiere an einem sicheren Ort, falls es das gibt, sichere Orte.
    Wenn es nach Lukaschek gegangen wäre, hätte man auch die Baumann aus dem Fenster geworfen und dann eben weitergesehen, ob es noch einen anderen Helden gab, der sich unkooperativ verhielt. Aber Geissler bevorzugte eine originelle Lösung, eine umständliche Inszenierung war ihm allemal lieber als Lukascheks dumpfe Gewehrkugelmentalität. Der junge, höfliche Mann war übrigens der Sekretär H.P. Thomsons gewesen, ein gewisser Jack Swanzy, der Thomson auch begleitete, als dieser zur Diplomatie wechselte. Swanzy besaß eine große Ähnlichkeit mit Ranulph Field, leider Gottes, muß man sagen. Denn dieser Umstand hatte auch für Cheng dramatische Auswirkungen. Doch davon später.
    Maria war sich unsicher, wie vorzugehen sei, und involvierte einen jüngeren Kollegen, der das vorhandene Material erst einmal auf seine Tauglichkeit überprüfen und um weitere Recherchen ergänzen sollte. Eigenartigerweise fühlte sie sich sicher, so als sei abgemacht, daß alle auf ihren nächsten Schritt zu warten hätten.
    So als sei sie unverwundbar, weil sie ein und denselben Körperteil ja nicht zweimal verlieren konnte. Zwei Wochen später erhielt sie ein Paket. Als sie es öffnete, fiel ein menschlicher Finger heraus. Der Fingerknochen an der Schnittstelle war ausgehöhlt, und darin steckte eine dünne Papierrolle. Einen kurzen verrückten Moment lang dachte sie, das sei der Finger, den ihr Geissler vier Jahrzehnte zuvor amputiert hatte, denn es war der Finger eines jungen Menschen. Aber natürlich war die Amputation erst vor kurzem erfolgt, und auf dem Zettel teilte ihr Geissler mit, daß dies der Finger ihrer Enkelin sei, übrigens eine reizende junge Frau, wie er gerne betone, und daß er voller Zuversicht sei, daß weitere derartige Fingerübungen nun nicht mehr nötig seien, daß sie nun endlich vernünftig werde und aufhöre, wegen dieser dummen, alten Nazigeschichte sich schlecht zu benehmen. Er hatte das tatsächlich geschrieben: Dein schlechtes Benehmen (und das war ernst gemeint, denn wie alle Sadisten, die ganz vorn mitspielten, empfand er jegliches Aufbegehren gegen seine Person als ein unverzeihliches Betragen).
    Sie hoffte, das sei ein Bluff, sie hoffte, daß es sich um irgendeinen Finger handelte, mein Gott, als könnte man das überhaupt sagen – irgendein Finger. Als würde Geissler eben bei irgendeiner Operation irgendeinen Finger mitgehen lassen, um seine alte Freundin Baumann zu erschrecken.
    Baumanns Enkelin, Maria Chaloupka, war zu dieser Zeit neunzehn, ein scheuer, introvertierter Mensch, ein Mensch mit Vorahnungen, also ein Mensch mit Ängsten. Ein halbes Jahr zuvor war sie von zu Hause ausgezogen. Auch weil sie lesbisch war, was ihre Mutter als unerträglich empfand, die wie die ganze mittlere Generation unter einer krankhaften Überbetonung des Heterosexuellen litt.
    Die Enkelin lebte mit ihrer Geliebten zusammen, Charlotte Grimus. Zu dieser fuhr nun die Baumann und fand Charlotte verzweifelt vor. Seit zwei Tagen war sie in Sorge, weil Maria nicht nach Hause gekommen war. Noch während die Baumann Charlotte zu beruhigen versuchte (obwohl sie es ja besser wußte), kam der Anruf aus dem Spital. Man hatte Maria völlig verwirrt in einem Park gefunden und Rauschgift oder Tabletten vermutet. Der Arzt hatte den perfekt vernähten Fingerstumpf nicht einmal bemerkt (auch wenn ihr der ganze Arm in Fetzen heruntergehangen wäre, bei weiblichen Patienten wird zunächst immer auf Psychose und Tabletten getippt). Wenigstens konnte der Arzt nichts mehr versauen. Allerdings war Maria erst nach Tagen ansprechbar. »Der alte Mann hat gesagt, es würde noch einmal passieren, falls du nicht endlich begreifst, wie wichtig gutes Benehmen ist.« Mehr sagte sie nicht, in ihrer Stimme lag etwas … nun, es war vielmehr so, daß nichts in ihrer Stimme lag, daß ihre Stimme leer war, nicht tot, sondern leer. Es war offensichtlich, daß sie mehr als bloß einen Finger verloren hatte. Die Baumann rief Swanzy an, um ihm mitzuteilen, er könne sofort sämtliche Unterlagen haben. Swanzy zeigte sich hocherfreut, daß sie nun doch noch erkannt habe, daß der Sinn von Spielregeln allein in ihrer Einhaltung bestünde (die Polizei aus der Sache herauszuhalten war übrigens das geringste Problem).
    Maria Chaloupka und ihre Freundin Charlotte gingen ein

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