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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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hat keine schöneren.«
    Bei dieser Erinnerung schossen ihr schon wieder Tränen in die Augen. Langsam ließ sie die Fäden der Quasten durch die Finger gleiten. Sie hatte keine Ahnung, woher Dagmar das kostbar aussehende Garn bekommen hatte, und sie hatte sie auch nie danach gefragt.
    Ein weiteres Geheimnis, das Dagmar niemals mehr würde aufklären können, genau wie die Frage, wer der Vater ihres Kindes war oder was sie im Kloster herausgefunden und Maria so aufgelöst hatte erzählen wollen, bevor dieser blonde, noch jungfräuliche Freier sie unterbrochen hatte.
    Auf ewig ungelöste Rätsel.
    Manche Fragen, Prinzessin, stellt man besser nicht, wenn man nicht über das Elend in der Welt ständig in Tränen ausbrechen möchte ...
    Die sanfte Stimme klang in ihrem Kopf auf, und Maria blieb stehen. Diesmal ängstigte die Stimme sie nicht mehr so sehr wie noch beim ersten Mal. Im Gegensatz zu der anderen, der keifenden,würde diese Stimme ihr nichts Böses wollen, davon war Maria überzeugt.
    Doch auch die keifende Stimme schlief nicht.
    Die Welt ist böse, weil der Satan in ihr regiert!
    Aufstöhnend schloss Maria die Augen. Sie presste die Hände auf die Ohren, aber genau wie in der Frauenkirche nützte das nicht das Geringste.
    Wir sind angehalten, das Böse in uns zu bekämpfen, damit Jesus Christus nicht umsonst für uns gestorben ist! , giftete die Stimme weiter.
    Und in diesem Moment traf Maria eine Erkenntnis.
    Die keifende Stimme gehörte der Frau mit der kalten Hand! Maria bildete sich die Worte nicht ein, die in ihrem Kopf erklangen. Sie erinnerte sich an sie!
    All diese Dinge, die die Stimmen zu ihr sagten, waren Teil ihrer vergessenen Vergangenheit! Und die Besitzer der Stimmen hatten wirklich gelebt. Lebten vielleicht sogar noch ...
    Diese Erleuchtung erregte Maria so sehr, dass sie ihre Wanderung mit noch schnelleren Schritten wieder aufnahm. Wenn die kreischende Stimme der Frau gehörte, konnte es dann sein, dass die sanfte – sie wagte es kaum, es auch nur zu denken – ihrem Vater gehörte?
    Prinzessin , sagte diese Stimme zu ihr.
    Prinzessin. War sie ihres Vaters Prinzessin gewesen?
    Aber warum hatte sie dann einen Großteil ihres Lebens in diesem Haus der frommen Frauen verbracht? Vielleicht, weil ihr Vater gestorben war und ihre Mutter auch. Das wäre ein Grund gewesen, sie in ein Findelheim zu geben.
    »Mirjam« hatte der Mann auf dem Marktplatz sie genannt.
    Mirjam.
    Das war ihr richtiger Name. Der, mit dem sie zur Welt gekommen war.
    Doch warum nannten dann alle sie Maria?
    Maria.
    Diesen Namen hatte ihr die Frau mit der keifenden Stimme gegeben, dessen war sie sich plötzlich ganz sicher.
    Maria schloss die Augen, um sich die Züge der Frau ins Gedächtnis zu rufen. Ihre hagere Gestalt hatte sie bereits in einer früheren Erinnerung gesehen. Jetzt sah sie auch ihr Gesicht. Ebenfalls hager war es, mit tiefen Schatten unter den hellen Augen und kurzen Wimpern.
    Ich bin dafür da, eine ordentliche Christin aus dir zu machen! Das waren die ersten Worte, die diese Frau an Maria gerichtet hatte.
    Und Maria hatte widersprochen. Ich bin keine Christin! , hatte sie gesagt, daran erinnerte sie sich jetzt deutlich. Und ich heiße Mirjam, nicht Maria!
    Danach war nichts mehr – nur noch die Erinnerung an die Schmerzen der ersten Tracht Prügel, die die Frau ihr verabreicht hatte. Die erste von vielen hundert weiteren.
    Mit einem Ruck blieb Maria stehen, denn plötzlich stiegen noch andere Erinnerungsfetzen in ihr auf. Wieder hörte sie das klatschende Geräusch, das sie beim ersten Mal nicht hatte zuordnen können. Jetzt erkannte sie, dass es Schritte waren. Schritte von Füßen, die in ledernen Sandalen steckten.
    Und sie stiegen die Treppe herauf.
    Voller Panik blickte Maria zur Eingangstür. Dann erst begriff sie, dass die Schritte ihrer Erinnerung entstammten.
    Warum nur war es auf einmal so schwer, Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzuhalten?
    Maria wankte zu ihrem Bett und sank darauf nieder. Mimis Körper rieb an ihrem Bein, und ihr fiel auf, dass sie die Puppe schon länger nicht mehr in die Hand genommen hatte. Wozu auch, wenn sie die Stimmen nicht fernhalten konnte?
    Maria zog den Puppenkörper unter ihrem Rock hervor. »Sie kommen, um mich zu holen«, sagte sie. Denn sie wusste jetzt, dass in diesem Schrittgeräusch der Schlüssel zu allen Fragen lag. Jemand war gekommen. Jemand, der lederne Sandalen trug. Und er hatte Maria – Mirjam – von ihren Eltern fortgeholt.
    Und dann hatte er

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