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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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lächelte sie über die Mappe hinweg an. »Wahrscheinlich sind wir uns ähnlicher, als wir glauben. Wir beide neigen dazu, uns selbst zu quälen.«
    Katharina zuckte die Achseln und beschloss, ihm nicht zu sagen, dass sie die Zeichnungen dazu benutzt hatte, die Spinnweben aus ihrem Kopf fernzuhalten.
    Zu ihrer Erleichterung beharrte er nicht auf einer Erwiderung,sondern zog ein Blatt hervor und drehte es so, dass Katharina es betrachten konnte. Es ähnelte jenem mit dem Auge, von dem sie ebenfalls eine Version besaß.
    Katharina schluckte schwer.
    Besorgt sah Richard sie an. »Du wolltest wissen, woran Heinrich gestorben ist«, erinnerte er sie vorsichtig.
    Sie nickte ihm zu. »Rede weiter!«
    »Dieser Strang hier.« Richard tippte auf das rote fadenartige Gebilde, das seitlich aus dem Augapfel herausragte. »Bei meinen Studien habe ich immer wieder festgestellt, dass dieser Strang in Richtung Gehirn verläuft. Kann ich dir etwas ... nun ... etwas Abstoßendes zeigen?«
    Katharina blickte auf das Bild. Sie konnte sich nicht vorstellen, was noch abstoßender sein sollte als das hier – oder als der Anblick von Heinrichs leeren Augenhöhlen. Also nickte sie und hoffte, dass es kein Fehler war.
    Richard gab ihr die Skizze in die Hand und wandte sich seinem Pult zu. Er kniete sich davor nieder und kramte eine Weile darin herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Mit einem kopfgroßen Gegenstand, der von einem schwarzen Tuch verhüllt war, drehte er sich wieder um.
    »Es ist ein Schädel«, sagte er, griff nach einem Zipfel des Tuches und schaute Katharina fragend an.
    Sie nickte erneut, und er zog das Tuch fort.
    Es war tatsächlich ein Schädel. Ein menschlicher Schädel von einer fast hübschen milchig-gelben Farbe, die an einigen Stellen ins Rötliche überging. Die wenigen Zähne, die noch in den beiden Kiefern steckten, wirkten dagegen schmutzigbraun und hässlich. Mit einer Mischung aus Grausen und Faszination schaute Katharina in die leeren Augenhöhlen. »Woher hast du ihn?«, fragte sie.
    Richard grinste verlegen. »Von einem Richtplatz in der Nähe von Augsburg. Ich habe ihn schon sehr lange und hatte das bis heute völlig vergessen. Sieh her!« Er hielt den Schädel so, dass Katharina ihn gut sehen konnte. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger die knöchernen Augenhöhlen nach und deutete auf eine ungefähr fingernagelgroße Lücke in deren hinterem Teil. »Ich vermute, dass dies die Stelle ist,durch die Auge und Gehirn miteinander verbunden sind. Nimm einen schmalen, langen Gegenstand ...« Er verstummte und sah sich um. Dann griff er zu einem Federmesser, das auf einem Stapel Pergament auf seinem Pult lag und betrachtete es. »... und triff diese Stelle, wenn du jemandem die Augen ausstechen willst.« Er steckte die Messerklinge durch die kleine Öffnung und drehte den Schädel dann so, dass Katharina von unten hineinschauen konnte. Die Spitze des Messers ragte bis in die Mitte der Schädelwölbung. »Du stichst mitten ins Gehirn«, erklärte Richard. »Und das dürfte in jedem Fall tödlich sein.«
    Katharina fühlte sich ein wenig zitterig angesichts seiner Ausführungen. Nachdenklich schüttelte sie den Kopf.
    »Was ist?« Richard zog das Messer aus der Augenhöhle, legte den Schädel auf dem Pergamentstapel ab und die Klinge daneben.
    »Nichts. Ich bewundere nur, wie du es schaffst, durch Überlegungen zu solchen Erkenntnissen zu gelangen. Du warst nicht dabei, als Heinrich ermordet wurde, und doch weißt du, wie er gestorben ist. Das ist, nun, faszinierend. Und erschreckend.«
    Richard lächelte. »Wenn du morgens aufstehst und eine halb aufgefressene, tote Maus liegt vor deiner Haustür, dann weißt du doch auch, dass die Katze sie dort hingelegt hat. Auch wenn du geschlafen hast, als sie das tat.«
    »Das ist doch etwas ganz anderes ...«
    »Nein, Katharina! Es ist nichts anderes. Stell dir vor, du bist ein kleines Mädchen und siehst die tote Maus zum allerersten Mal auf deiner Schwelle liegen. Dann gibt es zwei Möglichkeiten für dich, herauszufinden, wie sie dorthin gelangt ist. Erstens: Du fragst jemanden, der es wissen könnte. Deine Mutter zum Beispiel. Sie erklärt es dir. Oder aber du bleibst in der nächsten Nacht wach und beobachtest die Türschwelle. Wenn du nun siehst, dass die Katze eine zweite tote Maus bringt, kannst du daraus schließen, dass sie auch die erste gebracht hat. In diesem Fall hast du dich nicht auf irgendwelche Autoritäten verlassen, sondern du hast dir das nötige

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