Cherubim
Natürlich! Er schien höher gestellt zu sein, als sie zunächst vermutet hatte. Wahrscheinlich hatte er einen Ruf zu verlieren. Sie richtete die Gedanken auf die Goldmünzen in seinem Beutel. Dann folgte sie ihm hinein in die unheimliche Finsternis.
Der Mann führte sie durch einen Gang, der so schmal war, dass Dagmar die Wände rechts und links mit beiden Händen berühren konnte. Sie verzog angewidert das Gesicht, denn ein strenger Geruch von Tierkot stieg ihr in die Nase. Hier waren eindeutig Ratten!
Ängstlich streckte sie die Hand nach dem Umhang des Freiers aus, um sich daran festzuklammern.
»Keine Sorge«, sagte er und hob den rechten Arm, um ihr zu zeigen, was er in der Hand hielt.
Hier in der Gasse brannten keinerlei Lichter, doch ein paar Mondstrahlen erreichten den glitschigen Boden vor Dagmars Füßen. In einem von ihnen blitzte die schmale Klinge in der Hand des Freiers auf. Sie sah gefährlich aus. Scharf geschliffen und nadelspitz.
»Gut«, murmelte Dagmar. »Das wird die Biester auf Abstand halten!« Irgendwo hinter ihr quietschte eine der Ratten.
Dann weitete sich der schmale Gang unvermittelt zu einer Art Hinterhof. Dagmar sah eine Reihe Fässer und mehrere Holzverschläge, in denen fette Kaninchen hockten. Unordentlich gestapelt lehnten ein paar Körbe an einer schmutzigen Wand. Der Boden unter ihren Füßen war aufgewühlt, so als hätten hier tagsüber Dutzende von Füßen den immer wieder frisch gefallenen Schnee niedergetrampelt und zum Schmelzen gebracht. Jetzt, in der Kälte der Nacht, bildete sich über dem Matsch eine dünne Eisschicht, die knirschend unter Dagmars Füßen zerbarst.
Der Freier drehte sich zu Dagmar um.
»Wo geht ...?« Sie verstummte erschrocken. Rasch blickte sie sich um, weil sie sehen wollte, wo es weiterging. Doch es gab keinerlei Ausweg aus diesem Hof, bis auf die Gasse, durch die sie gekommen waren. Und – diese Erkenntnis fraß sich in Dagmars Bewusstsein wie ein eisiger Dolch – es gab auch keine Hintertüren, durch die man in eines der umstehenden Häuser gelangen konnte.
»Das ist eine Sackgasse!« Sie keuchte auf, denn nun hob der Freier beide Hände, um seine Kapuze abzustreifen. Der Dolch in seinen Fingern ließ einen weiteren Mondstrahl glitzern.
Schlagartig begann Dagmar zu zittern. Dann wurden ihre Augen weit, als sie erkannte, wer vor ihr stand.
»Ihr?« Ihre Stimme überschlug sich. Sie wollte rückwärts weichen, aber ihre Füße waren wie am Erdboden festgefroren. Und plötzlich, so schnell, dass sie entsetzt rückwärts taumelte, fuhr der Dolch auf ihr Gesicht zu.
Sie prallte zurück, und der Dolch verfehlte sie um Haaresbreite. Doch keinen Atemzug später explodierte greller, brutaler Schmerz in ihrem Unterleib.
Das Kind!, war das Letzte, was sie denken konnte. Sie presste die Hände auf den Leib, um ihr Ungeborenes zu schützen. Etwas Warmes, Glitschiges quoll zwischen ihren Fingern hervor, dann fiel sie. Sie lebte noch lange genug, um mit anzusehen, wie der blutige Stahl des schlanken Dolches sich ihren weit aufgerissenen Augen näherte.
Nachdem der seltsame rothaarige Kauz verschwunden war, konnte Raphael seine Arbeit ungehindert fortsetzen. Er beschloss, sein Glückim Spittlertorviertel bei den Gasthäusern zu versuchen. Um dorthin zu gelangen, schlenderte er durch die Fleischhackergasse und schlug den Weg Richtung Frauentor ein. Beiläufig warf er einen Blick auf das Fischerhaus, in der Hoffnung, ein Licht hinter den Fenstern zu sehen. Etwas, das ihm Aufschluss über seinen neuen Auftraggeber geben konnte. Das Haus lag jedoch in völliger Einsamkeit da. Die Scheiben wirkten blind im Licht der wenigen Lampen ringsherum, und irgendwie kam Raphael das ganze Anwesen unheimlich vor.
Er machte, dass er weiterkam.
Bei einer Lücke in der Häuserfront, in der noch die Überreste eines kürzlich abgebrannten Hauses lagen, blieb er stehen. Etwas hatte ihn aufmerken lassen, aber er vermochte nicht zu sagen, was es gewesen war. Mit angehaltenem Atem lauschte er auf verdächtige Geräusche. Nichts.
Oben in der Dachrinne gurrten schläfrig ein paar Tauben, die sich zum Schutz vor der Kälte zu kleinen Federbällen aufgeplustert hatten.
»Ist da jemand?« In der nächtlichen Stille klangen Raphaels Worte unangenehm laut nach. Er erhielt keine Antwort, nur ein Hund schlug auf einem der naheliegenden Hinterhöf an und verstummte gleich darauf wieder.
Langsam ließ Raphael das Joch von den Schultern rutschen und stellte die Eimer ab. Die
Weitere Kostenlose Bücher