Cherubim
lange brauchen, um sie vergessen zu können – und Katharina mit ihnen.
Maria erwachte mit einem Kopf, in dem ein halbes Dutzend Schmiede auf winzig kleinen Ambossen hämmerten. Ihre Nase fühlte sich geschwollen an, und stöhnend griff sie danach, zuckte jedoch gleich darauf vor Schmerz zurück. Sie massierte eine Weile ihre Schläfen, bevor sie die Augen aufschlug und feststellte, dass es noch finstere Nacht war. Wie lange hatte sie geschlafen? Ihrem Gefühl nach konnten es kaum zwei oder drei Stunden gewesen sein.
In der Kammer, die sie sich mit Dagmar teilte, war es eisig kalt. Mit einem Seufzen setzte Maria sich auf.
Übelkeit wallte aus ihrem Magen hoch, aber sie war erträglich, und Maria konnte sie unterdrücken. Beim nächsten Mal würde sie darauf achten, wie oft Niklas ihr den Weinbecher nachschenkte, das schwor sie sich, während sie die Füße aus dem Bett schwang und auf der Erde abstellte. Sofort zog sie die Knie vor die Brust, denn die rauen Holzdielen waren eiskalt. Maria lehnte sich zur Seite, entzündete das Talglicht neben ihrem Bett und in seinem Schein sah sie, dass der Boden mit einer dicken Schicht Raureif überzogen war.
»Dagmar?«, rief Maria. »Bist du da?« Ihre Stimme hörte sich an, als sei sie erkältet. Sie lauschte, aber sie hörte weder eine Bewegung noch die regelmäßigen Atemzüge, die die Freundin von sich gab, wenn sie schlief. Das Einzige, was zu vernehmen war, war ein leises Rascheln und dann ein verschlafenes Gurren aus der Richtung des Fensters. In einem Käfig aus einfachen Weidenruten hielt Maria sich vier weiße Tauben. Die Tiere schliefen unter einem Tuch, das sie vor dem Zubettgehen über sie gebreitet hatte.
Maria nahm Mimi an sich, die sie wie jeden Abend auf ihr Kopfkissen gesetzt hatte. Mit schiefgelegtem Kopf blickte sie ihr in das aufgemalte Gesicht. »Scheint, als hätte Dagmar auch noch ’nen Freier getroffen«, erklärte sie der Puppe. »Sie ist noch nicht wieder da.«
Mimis Kopf bestand aus einem kinderfaustgroßen Stoffball, den ihr Schöpfer vor vielen Jahren mit Weizenspreu gefüllt hatte. IhrSchöpfer ... Das Wort hallte in Maria wider wie der Klang einer auf hartem Steinboden zerschellenden Tonschüssel.
Sie sah Mimi ins Gesicht und auf einmal stellte sie sich eine Frage, die sie seit ihrer Kindheit mit sich herumtrug und die ihr ab und an wieder in den Sinn kam: Woher stammte Mimi eigentlich?
Maria kramte in ihrem Kopf nach der ersten Erinnerung an die Puppe. Sie sah sich in einem schmalen Bettchen liegen, während eine der frommen Frauen vom Findelhaus eine Nachtgeschichte erzählte. Mimi lag in ihrem Arm. Maria dachte daran, wie sie mit Dagmar und den anderen Fangen und Verstecken gespielt hatte. Die Puppe hatte sie dabei stets unter den Arm geklemmt bei sich getragen.
Sogar eine ganz vage Erinnerung beschwor Maria in sich herauf. Eine harte Hand, die sie über die Schwelle des Findelhauses schob. Mimis kleine Gestalt zwischen Marias Fingern. Eine kalte Stimme, die sagte: »Ihr müsst Euch jetzt um sie kümmern! Ich kann es nicht mehr!«
Es war Marias allererste Erinnerung. Alles, was vor diesem Moment geschehen war, verschwamm in einem Nebel.
Von Dagmar wusste sie, dass dieser Nebel nicht alltäglich war. Andere Menschen, das hatte die Freundin ihr erzählt, erinnerten sich zwar auch nur schwach an die Erlebnisse ihrer ersten Lebensjahre, doch zumindest waren da wenigstens vage Vorstellungen. Bilder von Geborgenheit oder eben nicht. Das Gefühl, geliebt worden zu sein oder verachtet. Und da waren auch immer kurze Sequenzen, die aus dem Dunkel der Vergangenheit auftauchten wie ein kurzer Blitz. Ein Gesicht. Der eigenen Mutter oder des Vaters. Ein kurzer Moment voller Schmerz, weil der Familienhund einen gebissen hatte. Oder der Fetzen von einem Lied, das einem die Mutter vorgesungen hatte, als man noch in der Wiege gelegen hatte. All diese Dinge waren undeutlich, aber sie waren da.
Marias Erinnerungen jedoch begannen mit jenem Moment, in dem sie durch die Tür in das Haus der frommen Frauen geschoben worden war. Alles davor war wie mit einem scharfen Messer abgeschnitten. Sie hatte keine Ahnung, wem die Hand gehörte, die sie vorwärtsschob. Sie hatte keine Ahnung, woher sie kam, wer ihre Eltern waren oder ob sie Geschwister hatte. Und sie hatte keine Ahnung, wer ihr die Puppe geschenkt hatte.
Sie hob Mimi an das Gesicht, wollte ihren vertrauten Geruch einsaugen, aber wegen des Hiebes, den sie in der Nacht abbekommen hatte, ging das
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