Cherubim
ein Inquisitor? Er schien zu jung dafür zu sein, aber dennoch ...
»Seid Ihr Katharina Jacob?«, fragte der Mann. Sein Atem stieg als dichte weiße Wolke in die Luft. Er hatte ein offenes, freundliches Lächeln, und Katharina entspannte sich ein wenig.
»Ja«, sagte sie vorsichtig. »Wie kann ich Euch dienen?«
»Die Priorin von St. Katharina hat mich gebeten, Euch zu ihr zu holen. Sie braucht Eure Hilfe«, erklärte der junge Mann. »Mein Name ist Bruder Guillelmus.«
Jetzt erkannte Katharina ihn. Sie hatte ihn damals ein- oder zweimal getroffen, als sie im Predigerkloster gewesen war und sich die Leiche ihres Bruders angeschaut hatte. Das Bild der Schwanenflügel schob sich vor ihr geistiges Auge, und sie legte den Unterarm gegen die Kante der Tür. »Warum schickt die Priorin eines Frauenklosters einen Mönch?«, fragte sie.
Guillelmus lächelte. »Oh! Das liegt daran, dass die Nonnen in Klausur leben. Sie dürfen das Kloster nicht verlassen. Ich war mit meinem Magister bei ihnen, weil er ihnen die Beichte abnehmen musste. Ihr kennt ihn übrigens, sein Name ist Bruder Johannes.«
Katharina spürte, wie sich ihre Miene etwas aufhellte. »Bruder Johannes! Ich kenne ihn in der Tat!« Auch ihm war sie zum ersten Mal im Zusammenhang mit den Engelmorden begegnet. »Was will die Priorin von mir?«
Bruder Guillelmus legte den Kopf schief, und die Haare, die ihm bis fast an die Ohrläppchen reichten, rutschten ein Stück zur Seite, so dass Katharina die Kerbe sehen konnte, die der junge Mönch in seinem rechten Ohr hatte. Als er bemerkte, dass sie dieses Schandmal gesehen hatte, richtete er den Kopf rasch wieder gerade. Seine Hand wanderte nach oben und strich die glatten Strähnen zurecht. Er lächelte verlegen, machte jedoch keine Anstalten zu erklären, für welches Vergehen er diese Strafe erhalten hatte. »Ich weiß es nicht. Aber es geht um medizinische Fragen. Glaube ich zumindest.«
»Katharina!«, ertönte Mechthilds Stimme. »Wer ist denn da?«
»Ein Bote, Mutter«, rief Katharina zurück. »Ich muss kurz fort.« Schnell lief sie noch einmal nach oben, um zu sehen, ob ihre Mutter für eine Weile ohne sie zurechtkommen würde.
Mechthild lag in ihren Kissen und blickte ihr entgegen. »Was ist geschehen?« Ein Bote, das hatte sie in ihrem früheren Leben als Gemahlin des Henkers oft erlebt, bedeutete meist nichts Gutes.
»Ich weiß es nicht. Die Priorin von St. Katharina lässt nach mirschicken.« Katharina klopfte Mechthilds Kissen ein wenig zurecht.
»Geh nur!« Mechthild schien gewillt, den Streit vom Vorabend vergessen zu machen. »Ich kann warten, bis Ludmilla kommt.« Ludmilla war eine Freundin, die sich ab und an um sie kümmerte. Katharina hatte nicht gewusst, dass sie sich für heute angekündigt hatte.
»Danke.« Sie beugte sich vor, um ihrer Mutter einen Kuss zu geben, entschied sich jedoch anders, als Mechthild den Kopf ein wenig zur Seite drehte. »Ich bin so schnell wie möglich zurück.«
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und lief die Treppe wieder hinunter.
Sie griff nach ihrem Mantel und warf ihn sich über. Während sie ihn zuknöpfte, sah sie Bruder Guillelmus an. »Gehen wir!«, sagte sie und setzte sich ihre Haube auf.
Sie schloss die Tür hinter sich und führte Bruder Guillelmus dann über den Henkerssteg auf die gegenüberliegende Seite der Pegnitz. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, dass ihm eine Frage auf der Zunge brannte, und aufmunternd lächelte sie ihn an. »Ihr wollt wissen, warum ich im Henkershaus wohne, nicht wahr?«
Eine leichte Röte stieg Bruder Guillelmus ins Gesicht, doch er nickte verschämt.
»Bertram Augspurger«, seufzte Katharina. »Er war mein Stiefvater, bevor er starb.«
Sie sah, wie Guillelmus’ Augen sich weiteten und wie die Gedanken hinter seiner Stirn zu kreisen begannen. Offenbar wusste dieser junge Mönch, obwohl er im Kloster lebte, sehr wohl über bestimmte Dinge Bescheid. Es war überdeutlich, dass er im Bilde war, welcher Tätigkeit Bertram Augspurger nachgegangen war.
»Das tut mir leid«, sagte Guillelmus nach einer geraumen Weile. »Ich meine, dass er tot ist, nicht, dass er Euer Vater war.«
Inzwischen gingen sie am Ufer der Pegnitz entlang in Richtung Osten.
»Stiefvater«, stellte Katharina richtig. »Ich danke Euch für Euer Mitgefühl.« Sie starrte auf das Pflaster vor ihren Füßen. Sie wollte nicht immer wieder an die schrecklichen Ereignisse vom Augusterinnert werden, aber wie es aussah, würden die Nürnberger noch
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