Cherubim
Ketten klirrten leise, als sie neben den Gefäßen zu Boden glitten. Raphael hakte die Lampe von dem Joch und trat einen Schritt vor.
»Heda!« Er musste sich räuspern, bevor er weitersprechen konnte. »Wenn da jemand ist: Zeigt Euch, im Namen des Stadtrates!« Seine Hand tastete zum Gürtel, wo er immer einen kleinen Dolch bei sich trug. Während er die Hand um den hölzernen Griff schloss, dachte er, dass er besser die Büttel rufen sollte. Doch was wollte er ihnen sagen? Dass er ein ungutes Gefühl hatte? Er hatte bisher weder etwas gesehen noch etwas gehört, was dieses Gefühl rechtfertigte. Die Männer würden ihn auslachen.
Was aber, wenn dort zwischen den verkohlten Balken jemand lag, der Opfer eines Überfalls geworden war und nun Hilfe brauchte?
»Heda!«, rief er darum noch einmal.
Er hob die Lampe so hoch wie möglich, bevor er über den ersten der Balken hinweg ins Innere der Ruine kletterte.
Zu seiner Überraschung strömte das Holz trotz all der Monate, die seit dem Brand vergangen waren, noch immer den Geruch von Feuer aus. Raphael sog die Nachtluft ein, hoffte, sie könne ihm verraten, was hier vor sich ging. Es fühlte sich an, als verklebe sie seine Nasenlöcher, so kalt war es. Alles, was er roch, war das muffige Aroma der Talglampe in seinen Händen. Ein kleines Tier wurde von seinen Schritten aufgeschreckt und huschte ihm vor den Füßen davon. Es war so schnell, dass Raphael nicht erkennen konnte, ob es eine Ratte gewesen war oder etwas anderes. Er rümpfte die Nase und drang tiefer in das Gewirr aus Balken und Schutt ein. Der Mond lugte kurz durch die Wolkenfetzen am Himmel, aber dadurch wurde es nicht wesentlich heller.
Raphael umrundete einen Haufen geschwärzter Mauersteine, der sich brusthoch auftürmte. Und dann erstarrte er.
Ein entsetztes Ächzen staute sich in seiner Kehle, er musste würgen. Er wollte zurückweichen, aber seine Füße fühlten sich an wie aus Blei. Langsam wanderten seine Hände nach oben zu seinem Gesicht, krallten sich in das weiche Fleisch unter seinen Augen. Dieser Anblick! Er wollte ihn aus seinem Geist reißen, wollte ihn auslöschen, für immer vergessen.
Leise wimmerte er auf.
Mit dem Oberkörper gegen eine geborstene Wand gelehnt, hockte der Tote da, beide Beine weit von sich gestreckt, wie eine Holzpuppe, die man in eine Ecke gesetzt hatte. Ein zerrissenes Hemd enthüllte eine Schulter, die einst gebrochen gewesen und schief wieder zusammengewachsen war. Der Kopf des Toten war nach hinten gefallen und ruhte an der rauen Wand, und wenn da nicht dieses eine Detail gewesen wäre, Raphael hätte denken können, dass der Mann ihn anstarrte.
Doch da war nichts mehr, mit dem er hätte starren können.
Die Augen! Sie waren fort. Im Licht von Raphaels Lampe gähnten dunkel glänzende Höhlen in dem bleichen, stoppelbärtigen Gesicht, und das, was einmal die Augäpfel gewesen waren, hatte sich als breiter, blutig-schleimiger Strom über das Gesicht und die halbe Brust des Toten ergossen.
3. Kapitel
Am nächsten Morgen erwachte Katharina von einem lauten Pochen an der Haustür. Mühsam riss sie sich aus einem wirren, düsteren Alptraum, in dem eine dunkel gekleidete, geflügelte Gestalt sie über eine endlose, flache Ebene gejagt hatte.
Jetzt setzte sie sich hin, lauschte auf das kraftvolle Pochen und die Stimme, die rief: »Frau Jacob! Seid Ihr zu Hause?«
Sie musste sich räuspern, bevor sie antworten konnte. »Ja! Ich komme sogleich. Einen Augenblick!« Sie schwang die Füße aus dem Bett. Für einen Moment betrachtete sie ihre hellen Zehen, bevor sie sich aufraffen konnte, aufzustehen. Rasch warf sie sich das Kleid über und strich einmal über den guten schwarzen Samtrock, der an dem Haken daneben hing. Dann sammelte sie ihre langen blonden Haarsträhnen und band sie im Hinuntergehen mit einem Band zusammen, das sie in ihrer Tasche fand.
»Kind, wer ist da?«, hörte sie Mechthild aus der hinteren Kammer rufen.
»Ich sehe nach, Mutter!« Katharina langte nach dem Türriegel, schob ihn zur Seite und öffnete.
Morgendliche Kälte schlug ihr ins Gesicht wie eine Ohrfeige.
Vor ihr stand ein junger Mann mit breiter Brust und hübschen, glatten Haaren, der sie aus blauen Augen aufmerksam musterte. Ein dichter Kranz aus Wimpern umrahmte seinen Blick, und irgendwie kam er Katharina bekannt vor. Erst auf den zweiten Blick wurde sie gewahr, dass er ein Mönchsgewand trug. Ein Dominikaner. Sofort versteifte sich Katharina. Was wollte er von ihr? War er
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