Cherubim
gesamte Länge der Kirche und verstummten ganz in Katharinas Nähe.
»Frau Jacob!«
Sie blickte auf. Vor ihr stand Bruder Johannes. Er trug noch sein Messgewand, und seine Haare standen heute etwas weniger wirr vom Kopf ab. In den Händen hielt er ein kleines, in schwarzes Leder gebundenes Buch, das er sich vor den Bauch presste wie einen Schatz. Er betrachtete Katharina von oben bis unten, und dann erschien ein mitfühlender Ausdruck in seinem Gesicht. Ohne Worte ließ er sich neben ihr in die Bank sinken.
Da liefen Katharinas Augen über. Rasch wischte sie sich über beide Wangen, aber natürlich hatte Bruder Johannes ihre Tränen längst bemerkt.
»Warum weint Ihr?«, fragte er sanft und legte das Buch neben sich auf die Bank.
Noch einmal wischte Katharina die Tränen fort, dann gab sie es auf und ließ sie ungehindert über ihre Wangen strömen. Tief atmete sie durch und meinte dann: »Was sagt die Kirche dazu, wenn eine verheiratete Frau ins Kloster gehen will?« Der Gedanke war ihr soeben durch den Kopf geschossen, und es erschreckte sie, dass ihr die Vorstellung,sich den Rest ihrer Tage der strengen Zucht in St. Katharina zu unterwerfen, weniger beängstigend vorkam als die Vorstellung, wieder mit ihrem Mann das Haus – und das Lager – zu teilen.
Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in ihrem Unterleib aus, während sie an das Letztere dachte.
Bruder Johannes zog erstaunt eine Augenbraue hoch, kommentierte ihre Frage jedoch nicht, sondern antwortete ruhig: »Nun, der Ehemann muss sein Einverständnis geben, da die Frau, so sie verheiratet ist, diese Art von Entscheidung natürlich nicht allein treffen darf.«
Katharina dachte über diese Worte nach. Langsam nickte sie. »Das dürfte kein Problem sein«, murmelte sie. Sie war sich fast sicher, dass Egbert sie gehen lassen würde. Er schien so gänzlich das Interesse an ihr verloren zu haben, dass seine Einwilligung hoffentlich nur eine Formalität war.
Bruder Johannes wandte sich ganz zu Katharina um. »Habt Ihr Euch das gut überlegt?«, fragte er.
Katharina sah ihn an. »Nein«, flüsterte sie dann. Ihre Augen waren nun wieder trocken. Plötzlich fühlten sie sich an, als würden niemals wieder Tränen aus ihnen fließen können.
»Richard Sterner, oder?« Jetzt flüsterte auch Johannes.
Katharina antwortete nicht. Ihr Blick lag noch immer auf dem Gesicht des Mönches, und offenbar war ein fragender Ausdruck in ihren Augen erschienen, denn er lächelte.
»Ich habe Euch gesehen«, erinnerte er Katharina. »Als Ihr zusammen im Kloster wart und die Leiche dieses toten Bettlers angesehen habt. Ich bin auch ein Mann, Frau Jacob. Ich vermag zu sehen. Und zu begreifen.«
»Warum tut Gott mir so etwas an?«, fragte Katharina. »Ich habe gerade mühsam gelernt, ohne Egbert zu leben und jetzt ...« Innerlich versteifte sich alles in ihr, weil sie fürchtete, Bruder Johannes könne wieder mit einem frommen Spruch kommen. Doch diesmal sagte er nichts von Gottes unergründlichen Wegen. Diesmal seufzte er nur schwer.
»Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht, mein Kind. Habt Ihr schon mit Herrn Sterner gesprochen?«
Katharina schüttelte den Kopf.
»Das müsst Ihr tun, das ist Euch klar, oder?«
Katharina nickte. Dann sagte sie: »Zuerst würde ich gerne noch einmal mit der Priorin sprechen. Meint Ihr, das geht, heute am heiligen Sonntag?«
Bruder Johannes richtete seinen Blick auf den Chor hinter dem Lettner, wo jetzt nur noch eine einzige Nonne saß und betete.
»Ich gehe fragen«, sagte er. Er erhob sich, nahm sein Buch an sich und marschierte durch die Kirche nach vorne. Vor dem Lettner blieb er stehen. »Schwester Rubinia?« Er sprach leise, doch seine Stimme trug bis zu Katharina. Sie hatte einen sanften Klang.
Die Nonne blickte auf.
Bruder Johannes winkte sie an den Lettner. Sie sah sich erst suchend um, als fürchte sie, dafür bestraft zu werden, dass sie ohne Erlaubnis mit dem Mönch sprach, aber dann entschied sie sich, seiner Aufforderung nachzukommen. Sie erhob sich, trat nach vorn und beugte den Kopf, als Johannes ihr etwas zuflüsterte.
Ihr Blick huschte zu Katharina. Dann nickte sie, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand durch eine Tür im hinteren Teil des Chores.
Kurze Zeit später kam sie zurück. »Die Priorin will sie sehen«, sagte sie.
Bruder Johannes wandte sich zu Katharina um, doch die hatte sich bereits erhoben und war auf dem Weg nach vorn zum Lettner.
Schwester Rubinia trat zu einer kleinen Pforte rechts in dem
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