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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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gängiges Mittel, um zu ergründen, woran ein Mensch gestorben war. Oftmals gab es eindeutige Zeichen, eine tiefe Wunde, die auf einen Mord oder einen Unfall hinwies, einen blasigen Ausschlag, der auf Pocken deutete.
    Silberschläger lächelte milde. »Darf ich Euch dann um einen Gefallen bitten?«
    »Einen Gefallen?« An dieser Stelle hatte Richard beschlossen, auf der Hut zu sein.
    Silberschläger hatte genickt. Dann hatte er Richard gebeten, sich am nächsten Morgen mit ihm vor dem Hauptportal von St. Sebald zu treffen, und als Richard ihn nach dem Grund dafür gefragt hatte, hatte er sich vorgebeugt und ihm in allen Einzelheiten von der Leiche in der Türmerstube erzählt.
    Jetzt befand Richard sich auf dem Weg zu St. Sebald, der prachtvollen Bürgerkirche, die das gesamte Stadtviertel überragte, und er war sich nicht mehr so ganz sicher, ob es nicht klüger gewesen wäre, Silberschlägers Bitte abzuweisen.
    Zu sehr erinnerte ihn das, was der Bürgermeister ihm am Abend zuvor zugeflüstert hatte, an die Dinge, die er hinter sich lassen wollte: an Leichen und den Gestank von verwesendem Fleisch. An die verzweifelte Suche nach Antworten und das Sichbeugen über offene Leiber und offene Wunden.
    Er schüttelte sich, und doch war er nicht in der Lage, innezuhalten und sich wieder umzuwenden, um zurück nach Hause zu gehen. Etwas in ihm, ein winziger Teil seines Geistes, den er in der vergangenen Nacht zu hassen gelernt hatte, war erregt angesichts der Tatsache, dass er wieder forschen, wieder Fragen stellen, wieder sezieren durfte. Über sich selbst den Kopf schüttelnd, setzte Richard seinenWeg fort, und er schlug einen flotten Schritt an, um nicht erneut ins Grübeln zu verfallen.
    An der Treppe, die auf das Westportal der Kirche hinführte, blieb er schließlich stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Seine Rechte wanderte über die Schulter nach hinten, und fast meinte er, den Schmerz der tiefen Einschnitte zu spüren, die der Engelmörder ihm beigebracht hatte.
    »Braucht Ihr Hilfe?« Der bewaffnete Mann, der wie aus dem Boden gewachsen neben Richard stand, musterte ihn mit einer Mischung aus Hilfsbereitschaft und Vorsicht.
    Richard registrierte, dass die Hand des Mannes am Schwertgriff lag, und er verspürte einen Augenblick lang die Nervosität eines Gejagten. Bis ihm einfiel, dass sich ganz in der Nähe – an der Ecke der Mauer, an deren Fuß er stehengeblieben war – ein Brunnen befand.
    Dieser Brunnen war einer derjenigen, über die Stadtrat Mullner und die anderen im Roten Ochsen geredet hatten, einer derjenigen, die rund um die Uhr bewacht wurden. Rasch schüttelte Richard den Kopf und nahm die Hand von seinem Rücken. »Nein. Ich danke Euch. Es ist nur eine alte Verletzung, die mich ab und an plagt.«
    Der Bewaffnete nickte verstehend. »Kenne ich. Ich war bei der Schlacht von Pillenreuth dabei. Seitdem macht mein linkes Bein öfter Ärger.« Dann kehrte er auf seinen Posten neben dem Brunnen zurück, dem sich in diesem Moment eine junge Frau mit einem Holzeimer näherte. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, bevor er ihr zunickte und ihr erlaubte, den Eimer am Brunnen zu füllen.
    Richard beobachtete ihn dabei und wunderte sich. Die Schlacht am Pillenreuther Weiher lag über vierzig Jahre zurück, und so alt sah der Bewaffnete gar nicht aus.
    »Ah! Sterner!«
    Eine leicht nasale Stimme riss Richard aus seinen Gedanken, und er drehte sich um.
    Vor ihm stand Gernot Silberschläger. Das Gesicht des Bürgermeisters verschwand zur Hälfte in dem ausladenden Pelz seines Mantels, dessen Kragen er zum Schutz gegen die Kälte hochgestellt hatte. Sein Atem hatte feine Eiskristalle an den braunen Tierhaaren gebildet und sie so mit einer weißen Schicht überzogen. SilberschlägersNase war leuchtend rot. »Ich danke Euch, dass Ihr Euer Versprechen eingehalten habt.«
    Richard neigte den Kopf zu einem Gruß. »Bürgermeister!«
    Silberschläger warf einen Blick auf die junge Frau mit ihrem Holzeimer, die sich soeben anschickte, einen Schluck Wasser in der Hand zu schöpfen. Einen Moment lang betrachtete er ihre schlanke Gestalt mit unverhohlenem Interesse, dann besann er sich, wies die Treppe hinauf und auf das rechte der beiden Westportale, die ins Innere der Kirche führten. »Die anderen dürften schon auf uns warten«, sagte er. »Beeilen wir uns besser!«
    »Die anderen?«
    Tags zuvor hatte Silberschläger nichts von anderen Männern erwähnt, mit denen sie sich hier offenbar treffen sollten. Mit wachsender

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