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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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solcher Begeisterung zu sprechen. Ihm selbst war die Puste schon längst ausgegangen, und er musste sich erneut eingestehen, dass er nach seinen schweren Verletzungen noch lange nicht wieder der alte war.
    »Mit unserer Uhr«, redete Silberschläger weiter, »kann man die geraden Stunden anzeigen. Aber natürlich werden in Nürnberg, wie in den anderen Reichsstädten auch, die ungeraden Tag- und Nachtstunden geläutet. Meister Müller ... kennt Ihr Meister Müller?«
    Wieder schüttelte Richard den Kopf. Sein Herz jagte jetzt unangenehm.
    »Er war ein berühmter Mathematicus«, erläuterte Silberschläger und übersah den finsteren Blick, den Flechner ihm zuwarf. »Sollte unter anderem für den Papst in Rom arbeiten, aber leider kam es nicht mehr dazu. Er starb auf einer Reise dorthin. Viel zu früh, wenn Ihr mich fragt! Aber einerlei: Jedenfalls hat er vorher noch genug Zeit gehabt, für die Stadt Umrechnungstabellen zu schreiben.Auf diese Weise kann der Türmer an der Uhr die gerade Stunde ablesen und weiß anhand der Tabelle, wann er zur ungeraden Stunde läuten muss. Er gibt den Stundenschlag vor, die anderen Türmer hören ihn und läuten nun ihrerseits. Darum hat es gestern auch dieses Durcheinander gegeben. Weil der Sebalder Türmer nicht geläutet hat, konnten es die anderen ebenfalls nicht.« Er verstummte nun endlich selbst. Tief holte er Luft. Sein Kopf war dunkelrot angelaufen von der Anstrengung des Treppensteigens und gleichzeitigen Redens.
    Richard kannte zwar den Unterschied zwischen geraden und ungeraden Stunden, aber es war ihm egal, welche davon der Türmer läutete. Ihm war soeben bewusst geworden, dass Silberschläger nur so viel redete, um von dem Grauen abzulenken, das er angesichts der Leiche oben in der Türmerstube empfand.
    In Richard spannte sich etwas an. Plötzlich schmerzte sein Magen. Er wollte Silberschläger eine Frage stellen, aber in diesem Moment hatten sie eine Art Empore erreicht, die vor Vogeldreck starrte. Von hier aus konnte man auf die Oberseite des Hauptschiffgewölbes schauen. Ein paar der Tauben, die hier oben ihren Unterschlupf hatten, flatterten erschrocken davon.
    Silberschlägers Stimme hallte über dem Gewölbe wider. »Hier! Seht Euch das an!« Er wies auf eine Stelle unterhalb der Treppe, von der es noch weiter in die Höhe ging.
    Richard kniff die Augen zusammen. Der Turmaufgang besaß keine Fenster, sondern nur schmale, Schießscharten ähnliche Schlitze, durch die das Tageslicht in langen, blassen Bahnen fiel und den Fußboden erhellte. Alte, abgenutzte Dielen lagen zu seinen Füßen und knarrten laut, sobald er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte.
    Vor der Treppe, direkt vor ihm, waren die breiten Fugen des Bodens mit einer schwarzen Substanz gefüllt. Richard kniete sich hin, um sie sich genauer anzusehen. Die Narben auf seinem Rücken pochten, als wollten sie ihm eine stumme Warnung zukommen lassen.
    Er musste die Substanz nicht aus den Fugen kratzen, um zu wissen, was er vor sich hatte. Langsam richtete er sich wieder auf. »Dasist Blut«, sagte er. »Altes Blut. Es befindet sich seit Wochen hier, vielleicht seit Monaten.« Etwas in seinem Hinterkopf regte sich, irgendeine Erinnerung, die er nicht zu fassen bekam, die ihm jedoch leichtes Unbehagen verursachte. Er atmete tief durch.
    Dabei bemerkte er den Geruch, der in der Luft lag. Fragend schaute er Silberschläger an.
    »Ihr riecht es schon, oder?«, erkundigte der sich.
    Richard nickte.
    »Lasst uns weiter nach oben gehen.« Silberschläger wies auf die Treppe, die von hier aus noch höher in den Turm führte. Wieder ging er voran.
    Obwohl er zuvor so energisch darauf bestanden hatte, sie zu begleiten, blieb Flechner auf einmal zurück, und plötzlich standen Richard am gesamten Leib die Haare zu Berge. Er kannte diesen Geruch. Diese Mischung aus süßlich und stechend, die sich in die Innenseiten der Nase und der Luftröhe setzte und sich von dort nur schwer vertreiben ließ.
    Silberschläger presste sich den Ärmel vor Mund und Nase, bevor er an der Luke zur Türmerswohnung stehenblieb und Richard fragend ansah. »Seid Ihr bereit?«
    War er das?
    Richard hatte mehr als genug Tote gesehen. Er kannte ihren Geruch, ihr Aussehen. Er kannte auch die Scheu, die einen bei ihrem Anblick ergriff, diese Mischung aus religiöser Ehrfurcht und kaltem Grauen angesichts der Tatsache, in was man selbst sich irgendwann einmal verwandeln würde. Asche zu Asche. Staub zu Staub.
    Richard schluckte. Dann

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