Cherubim
und erhob sich. »Es ist Zeit, wir müssen gehen!« Er wartete, bis Mullner ebenfalls aufgestanden war, dann griff er nach seinem Mantel, der an einem Haken hinter ihrem Tisch hing. Während er ihn anzog, beschloss auch Segers, sich ihnen anzuschließen. Alle drei verabschiedeten sich und verließen das Gasthaus.
Einen Moment lang blieben Richard und Silberschläger schweigend nebeneinander sitzen. Mit einem der dünnen Hölzchen, die der Wirt in einem Zinnbecher auf jedem Tisch stehen hatte, stocherte Richard ein Stück Fleischfaser zwischen seinen Backenzähnen hervor.
Schließlich räusperte Silberschläger sich.
Richard wartete ab. Es war leicht zu erkennen, dass der Bürgermeister etwas sagen wollte und noch nach den passenden Worten suchte.
»Ich vermute, sie sind über die Juden hergezogen, bevor ich reinkam, nicht wahr?« Silberschläger gab dem Wirt ein Zeichen, ihm noch ein Bier zu bringen. Dann wandte er sich wieder an Richard.
Richard nickte, und Silberschläger grinste schief. »Tun sie immer!« Wieder verstummte er und sprach nach einer Weile erst weiter: »Was denkt Ihr über diese Sache?« Vorsichtig klang er, auf eine seltsame Weise tastend, als verspüre auch er das dünne Eis, das Richard zuvor schon unter sich gefühlt hatte.
Richard wusste nicht genau, ob er von den Juden Nürnbergs sprach oder von der Leiche im Kirchturm. Fragend schaute er Silberschläger an.
»Von den Juden, meinte ich. Glaubt Ihr nicht auch, dass die zunehmenden Fälle von Schadenszaubern in der Stadt einen Grund haben müssen? Ich habe heute die dritte Anzeige in dieser Woche bekommen, bei der es um verendetes Hausvieh geht, und die zweite wegen urplötzlich sauer gewordener Milch.«
»Milchzauber?« Richard atmete zweimal tief durch, bevor er sagte: »Die Ereignisse vom August haben den Menschen Angst gemacht.«
»Verständlich!«
»Natürlich. Vielleicht reicht diese Angst allein aus, dass sie Gespenster sehen, wo gar keine sind.«
Der Wirt brachte Silberschlägers Bier. Als er wieder fort war, fragte der Bürgermeister: »Dann glaubt Ihr nicht, dass die Juden hinter all dem stecken?«
»Ich weiß genug über die Religion der Juden«, meinte Richard sachlich, »um zu wissen, dass Milchzauber nicht zu ihren Ritualen gehört.« Er bleckte spöttisch die Zähne. »Ebenso wenig übrigens wie das Schlachten kleiner Kinder.«
Silberschläger hob eine Augenbraue. »Im Rat behauptet man, Ihr seid ein gelehrter Mann und habt die Welt bereist, bevor Ihr Euch hier in Nürnberg niedergelassen habt. Dann habt Ihr auch die Juden studiert?«
Richard zog es vor, diese Frage nicht zu beantworten. Zu schnell geriet man in diesen Tagen in den Verdacht, zu irgendwelchen geheimen Zirkeln zu gehören, deren Tun im Verborgenen stattfand und mit den christlichen Geboten nicht vereinbar war.
»Es geht das Gerücht im Rathaus, dass Ihr in der Kunst der Leichenschau bewandert seid«, redete Silberschläger weiter. »Stimmt das?«
Richard schloss kurz die Augen. Er hatte gewusst, dass man im Rathaus über ihn sprach. Das lag schlicht und ergreifend daran, dass unter den Nürnberger Patriziern die wildesten Gerüchte über ihn kursierten, weil er sich beständig weigerte, für einen Sitz im Rat zu kandidieren. Aus diesem Grund hielt man ihn für verschroben und dichtete ihm die seltsamsten Vorgeschichten an. In der Phantasie der Nürnberger war er wechselweise ein ehemaliger Soldat, der unter den Folgen einer grausamen Schlacht halb den Verstand verloren hatte, oder ein verrückter Gelehrter, der nicht in einer der großen Universitäten studiert hatte, sondern bei einem obskuren muslimischen Meister in Toledo.
Richard hatte überaus sorgfältig darauf geachtet, dass die anatomischen Studien, die er bis zum August in einem von Nürnbergs Felsenkellern durchgeführt hatte, geheim blieben. Und er hatte auch nicht vor, daran etwas zu ändern, aus diesem Grund antwortete er auf Silberschlägers Frage sehr vorsichtig: »Die Leute reden allerhand Unsinn!«
Silberschläger sackte ein wenig in sich zusammen. »Dann stimmtes also nicht.« Von unten herauf musterte er Richard, während er das sagte, und Richard stellte fest, dass der Bürgermeister in der Kunst, eine Lüge zu entlarven, ebenso bewandert war wie er selbst. In Silberschlägers Miene war deutlich zu erkennen, dass er Richard für einen Lügner hielt.
»Doch«, lenkte Richard ein. »Es stimmt. Ich bin der Leichenschau kundig. Ein wenig aber nur.«
Die Leichenschau war ein
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