Cherubim
verspürte gelindes Erstaunen über die Art, wie Richard und Arnulf sie aus der Krummen Diele hinauskomplimentiert hatten, und darum verhielt sie ihre Schritte, kaum dass sie aus der Sackgasse in die quer verlaufene Straße getreten war.
Sie war neugierig, zu erfahren, wofür die beiden Männer diese alternde Hure geholt hatten. In Richards Gesicht hatte sie eine Form der Qual entdeckt, die ihr Sorgen bereitete. Dieses Brennen in seinen Augen, das, wie sie noch sehr gut wusste, von seiner Angst um sein Seelenheil hergerührt hatte, war wieder da gewesen, obwohl er ihr gegenüber mehrfach behauptet hatte, es sei ihm gelungen, seine inneren Dämonen zu besiegen. Sie dachte daran, wie er sie angesehen hatte, als sie in die Gaststube getreten war, so voller Freude und Hoffnung, dass sie es nicht übers Herz brachte, jetzt und hier einfach kampflos zu gehen. Vielleicht konnte sie Richard ja helfen, seine Dämonen zum zweiten Mal zu bezwingen.
Sie zögerte, weil sie nicht wusste, was die Entscheidung umzukehren für sie selbst bedeuten mochte, doch dann holte sie Luft und machte auf dem Absatz kehrt.
»Dein größtes Problem ist es, dass du dich für alles und jeden verantwortlich fühlst!«, murmelte sie zu sich selbst, und eine Traurigkeit erfüllte sie, die sie sich im ersten Moment nicht erklären konnte. Bis ihr einfiel, dass Matthias diese Worte oft zu ihr gesagt hatte.
Mit zusammengepressten Lippen nickte sie. »Stimmt, Bruderherz«, antwortete sie der Erinnerung an ihn. »Aber ich kann nichts dagegen tun.«
Sie sah die zusammengekauerte Frau sofort, als sie um die Hausecke bog. Es war eine der Huren aus der Diele , jedenfalls vermutete sie das anhand der Kleidung, die die Frau trug. Das arme Ding kauerte gegen eine Wand gestützt da und krümmte sich, als müsse es sich übergeben.
»Sie kommen!«, hauchte sie in einem Tonfall, der Katharina einen Schauer über den Rücken rinnen ließ. Noch jemand, den seine Dämonen nicht in Ruhe ließen!
Katharina warf einen Blick auf die Tür des Gasthauses, hinter der sich Richard noch immer befand. Dann seufzte sie, beugte sich über die Hure und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Kann ich Euch irgendwie helfen?«, fragte sie vorsichtig.
Die Frau zuckte zusammen, als habe sie einen Schlag erwartet.
Hastig zog Katharina die Hand zurück. »Ich wollte Euch nicht erschrecken!«
Da hob die Frau den Kopf und starrte Katharina voller Panik an. »Sie kommen«, flüsterte sie noch einmal. »Sie kommen, um mich zu holen!« Und dann brach sie in Tränen aus.
Sie weinte so heftig, dass ihr gesamter Körper davon geschüttelt wurde. Unter Tränen redete sie unablässig vor sich hin. »Sie kommen!«, stammelte zum wiederholten Mal, dann: »Ausgestochene Augen! Sie haben Dagmar die Augen ausgestochen, wusstet Ihr, dass man in der Pupille eines Toten das letzte Bild sehen kann, das er beim Sterben gesehen hat?« Sie krümmte sich. »Sie kommen!«, heulte sie auf.
Ohne nachzudenken, kniete Katharina sich neben sie und zog sie an sich. Durch ihr Mieder hindurch konnte sie ihre Rippen fühlen. Sie streichelte der Frau über den Rücken. »Scht! Es wird wieder gut werden. Wie ist Euer Name?« Früher als Heilerin war sie oft mit Tränen des Entsetzens konfrontiert worden, meistens dann, wenn sie Frauen mit Gemütskrankheiten behandelt hatte. Deshalb wusste sie noch, dass die Menschen sich leichter beruhigten, wenn sie sich auf ein, zwei einfache Fragen konzentrieren mussten.
Es half auch hier.
Sie schniefte. »Mirjam«, sagte sie spontan und erzitterte. Gleich darauf korrigierte sie sich: »Maria.«
»Warum tragt Ihr zwei Namen?«, fragte Katharina weiter, doch damit hatte sie einen Fehler gemacht.
Wild heulte Maria in ihren Armen auf, und sie wirkte völlig kindlich dabei. »Weil sie mir meine Mama weggenommen haben!« Sie erstarrte mit einer Endgültigkeit, als sei sie in eiskaltes Wasser gefallen. »Immerzu nehmen sie mir alles weg!« Mit weit aufgerissenen Augen machte sie sich los, lehnte sich etwas zurück und blickte Katharina an.
»Ich erinnere mich jetzt wieder!«, hauchte sie, und mit einem einzigen Wimpernschlag schien es, als sei das Kind in ihr zurück in den hintersten Winkel des Geistes gewichen und habe wieder der erwachsenen Frau den Vortritt gelassen.
Katharina presste die Lippen zusammen. Womit hatte sie es hier zu tun? Mit einer Form von Irrsinn, so wie bei Heinrich? Oder einfach nur mit abgrundtiefer Verzweiflung? Die Möglichkeit, dass ein Dämon
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