Cherubim
breitkrempigen Hut, der einen Schatten auf sein Gesicht warf. Doch heute war es hell, und so sah Raphael, wie blau die Augen seines Gegenübers waren. Geradezu leuchtend und mit einem Ausdruck, der ihn an einen Raubvogel erinnerte.
Ihn schauderte. »Ist der Zeitpunkt da?«, fragte er. »Braucht Ihr die erste Lieferung?«
»Habt Ihr das Zeug nach Männern und Frauen getrennt?«
Raphael setzte das Joch bequemer auf die Schultern. »Ja. Wie Ihr es gewünscht habt.« Er mühte sich um ein Lächeln, aber es fühlte sich falsch an auf seinen Zügen.
Der Medicus blickte auf die fast vollen Eimer. »Sehr gut!«
Irgendwie hatte Raphael das Gefühl, einen Scherz machen zu müssen. »War gar nicht so einfach, zumal Ihr es ja auch noch ohne Sch... ohne ... haben wollt.« Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.
Der Medicus reagierte nicht darauf. Seine Miene blieb ausdruckslos, nur seine Raubvogelaugen schienen Raphael durchbohren zu wollen.
»E-entschuldigt!«, stammelte der.
»Kommt mit!«, befahl der Medicus. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging los.
Eilig folgte Raphael ihm in eine Gasse, die in Richtung Frauentor führte.
»He! Butte!« Ein lauter Ruf ließ ihn zusammenzucken.
Der Nachtwächter, den er manchmal traf und an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte, winkte ihm zu. Der Kerl war um diese Zeit nicht im Dienst, und er trug nicht seine Uniform, sondern einfache grauwollene Kleidung und einen dicken Mantel aus Filz. Vor Kälte war seine Nase leuchtend rot gefroren.
»Ich brauche mal eben deine Dienste!« Der Nachtwächter grinste verkniffen, und er presste die Knie zusammen, als sei es ihm wirklich eilig.
»Er steht in meinen Diensten!«, sagte der Medicus. Er sprach leise, und dennoch verfehlten seine Worte ihre Wirkung nicht.
Der Nachtwächter wich einen Schritt zurück, hob beide Hände. »Schon gut! Verzeiht! Ich wollte nicht ...« Er verstummte, sichtlich irritiert von der seltsamen Aura, die von dem Medicus ausging. Mit gerunzelter Stirn starrte er Raphael an, nickte einen eiligen Abschiedsgruß und trollte sich.
Der Medicus blickte ihm nach. Dann setzte er seinen Weg fort, ohne ein einziges weiteres Wort zu sagen.
Sie bogen um die Ecke am Kohlenmarkt und kamen schließlich zur Gasse an der Frauentormauer, wo sich das Fischerhaus befand.
Raphael warf einen Blick an der ehemals bemalten und jetzt stark vernachlässigten Fassade nach oben. »Hübsch!«, kommentierte er und biss sich auf die Lippen, als der Doktor ihn erneut missbilligend musterte. Er zog den Kopf zwischen die Schultern.
Der Medicus öffnete die Haustür. »Kommt herein!«, bat er, nachdem er selbst in den düsteren Flur getreten war.
Mit leichten Magenschmerzen gehorchte Raphael ihm. So unauffällig wie möglich sah er sich um.
Das Innere des Hauses war finster, denn die meisten Fensterläden waren geschlossen. In den Schatten, die überall in den Ecken hocktenund die auch das zur Haustür hereinfallende Tageslicht nicht zu vertreiben vermochte, konnte Raphael die Umrisse einiger Möbel erkennen.
Der Medicus wies auf eine Stelle neben einer steilen Kellertreppe. »Stellt Euren Eimer dort hin.«
Raphael tat wie geheißen. Dann wandte er sich um. »Aber ich muss ihn wieder mitnehmen! Ich habe ...«
Der Medicus brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. »Ich gebe Euch einen neuen im Austausch für diesen hier. Wenn Ihr mir die zweite Lieferung bringt, bekommt Ihr Euren eigenen wieder.«
»Gut.« Eilig nickte Raphael, um zu zeigen, dass er mit dieser Regelung einverstanden war. »Das ist perfekt! Wirklich!«
»Schön.« Der Medicus griff nach einer Geldbörse, die von seinem Gürtel baumelte. Er entnahm ihr einige Münzen und gab sie Raphael.
Der wagte nicht, sie nachzuzählen. »Danke!« Seine Kehle war jetzt so trocken, als habe er einen ganzen Tag lang in glühender Sommersonne auf dem Feld gearbeitet. Er räusperte sich, doch dadurch wurde es nicht besser.
Der Medicus wies auf den Ausgang. »Ich lasse es Euch wissen, wenn ich die zweite Lieferung benötige.«
»Ja.« Raphael stolperte beinahe über seine eigenen Füße, als er zur noch immer offenstehenden Haustür eilte. »Danke. Ich ...« Er trat hinaus auf den Hausstein, und hinter ihm wurde die Tür kommentarlos zugeworfen.
So tief er konnte, holte er Luft. Die eisige Novemberkälte brannte auf seiner Haut, aber sie war eine Wohltat im Vergleich zu der Hitze, die die Blicke des Medicus auf seinen Wangen entfacht
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