Cherubim
Maria im Griff hielt und durch ihren Mund sprach, schob sie so weit wie nur möglich von sich.
»Woran erinnert Ihr Euch?«, fragte sie vorsichtig.
»Daran, dass sie mich von meiner Mutter weggeholt haben.« Maria wischte sich über die tränennassen Wangen und richtete sich auf. Ihr Kleid war an den Knien völlig verschmutzt, und Katharina wurde bewusst, dass das ihre wahrscheinlich nicht anders aussah. Für den Moment war das ihr geringstes Problem.
Bevor sie sich entschieden hatte, was sie sagen sollte, fuhr Maria fort: »Bis vor kurzem litt ich unter einem Gedächtnisverlust.« Ihre Stimme klang noch rau und schwach vom Weinen, aber sie wurde fester, je länger Maria sprach. »Ich konnte mich an nichts erinnern, das vor meinem fünften Lebensjahr passiert ist. Aber seit Dagmars Tod kommen die Erinnerungen zurück, bruchstückweise, und das ist so beängstigend.« Sie rappelte sich auf die Füße und strich sich über ihren Rock.
Katharina brauchte einen Moment, bis sie begriff, was sie soeben gehört hatte. Sie saß nach wie vor auf den Boden gekauert da undblickte zu Maria in die Höhe. »Sagtet Ihr eben Dagmar?«, fragte sie.
Maria nickte. »Sie war meine Freundin, ja. Warum?«
Rasch stand Katharina auf. Diese Frau hier hatte Dagmar gekannt, vielleicht wusste sie irgendetwas, das ihr bei der Suche nach dem Mörder half!
»Wo wohnt Ihr?«, fragte sie. »Ich bringe Euch nach Hause, damit Ihr Euch ein wenig besinnen und zur Ruhe kommen könnt.«
Zu ihrer Erleichterung – denn sie hätte nicht gewusst, was sie getan hätte, wenn Maria die Begleitung abgelehnt hätte – wies die Hure irgendwo in Richtung der Pegnitz. »Im Gerberviertel. Und ich danke Euch für Eure Fürsorge. Wie komme ich dazu?« Sie sprach jetzt wieder klar und beherrscht. Die Angst und das Entsetzen, die sie noch eben beherrscht hatten, waren in den hinteren Winkel ihrer Augen zurückgewichen.
Katharina musste sehr genau hinsehen, um sie noch zu entdecken. Sie zuckte die Achseln als Antwort auf die Frage. »Ich ...« Sie zögerte. Wie sollte sie es ausdrücken, ohne sich einer Lüge schuldig zu machen? Ich kannte Dagmar ebenfalls , wäre falsch gewesen. Also sagte sie: »Besondere Umstände haben Dagmar und mich zusammengeführt.« Und dabei dachte sie an den Augenblick, als sie in Niklas’ Schuppen vor der entstellten Leiche gestanden hatte. Besondere Umstände! Was für eine Beschreibung! Katharinas Kehle zog sich zusammen.
Marias Blicke huschten über ihr Gesicht. »Wann war das?«, fragte sie, und als Katharina nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Dagmar ist tot.«
Katharina senkte den Kopf. »Ich weiß. Und es tut mir leid!«
Gemeinsam verließen sie die Sackgasse. Katharina warf noch einen letzten Blick zur Krummen Diele zurück. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Richard sich dort noch aufhalten würde, aber schließlich wusste sie, wo er wohnte. Sie konnte ihn später immer noch aufsuchen. Jetzt galt es, die Gunst der Stunde zu nutzen und an so viel Wissen wie möglich zu gelangen.
Maria schlug einen Weg ein, der mitten durch das Spittlertorviertel führte. Sie schien froh darüber zu sein, jemanden zumReden zu haben. »Wusstet Ihr, dass Dagmar schwanger war?«, fragte sie.
Katharina verneinte.
»Sie hat geglaubt, der lange Arnulf ist der Vater. Ich habe sie für verrückt erklärt.«
»Arnulf?« Katharina hob die Augenbrauen.
»Ja. Kennt Ihr ihn auch?«
»Flüchtig.« Es wäre zu kompliziert gewesen, zu erklären, woher sie Arnulf kannte.
Zu ihrem Glück schien Maria mit dieser ausweichenden Antwort zufrieden zu sein. »Aber Arnulf ist nicht der Vater«, sagte sie. Sie klang zufrieden dabei, doch schon im nächsten Moment verging dieser Tonfall und machte eisiger Härte Platz. »Aber er hätte es sein können!« Sie würgte, und kurz hatte Katharina den Eindruck, dass sie selbst in Arnulf verliebt war, dass sie vor Eifersucht brannte.
»Woher kanntet Ihr Dagmar?«, erkundigte sie sich.
»Aus dem Haus der frommen Frauen«, erhielt sie zur Antwort. Als sie fragend schaute, weil sie nicht wusste, was das zu bedeuten hatte, erklärte Maria: »Ich wurde mit fünf Jahren dorthin gebracht. Dagmar war ein Findelkind. Sie lag eines Tages einfach auf den Stufen der Katharinenkirche, und die frommen Frauen haben sie ebenfalls aufgenommen. Sie kümmerten sich um elternlose Kinder. Und ich habe ihnen geholfen, Dagmar großzuziehen.«
»Sie muss wie eine Schwester für Euch gewesen sein.« Sie bogen in eine schmale Gasse
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