Cherubim
direkt am Flussufer ein. Hier roch es unangenehm nach Gerberlohe, deren ekeliges Aroma auch die klirrende Kälte, die alle anderen Gerüche in Eis verwandelte, nicht mindern konnte. Vor einem armseligen Haus aus schiefen Brettern und losen Schindeln blieb Maria stehen.
»Eine Schwester, ja«, murmelte sie. »Das war sie.« In ihren Augen sammelten sich wieder Tränen. »Das war sie«, wiederholte sie kaum hörbar, und ein Schluchzen schüttelte ihren Körper. »Warum nur hat man ihr das angetan? Ausgerechnet jetzt, wo sie gerade dabei war, mit sich selbst ins Reine zu kommen, trotz dieses Kindes, das sie erwartete.« Sie hielt inne, sah Katharina an. »Sie wollte nämlich insKloster gehen«, fügte sie hinzu. Dann wies sie hinauf zum ersten Stock des Hauses. »Dort wohne ich.«
Katharina stieg hinter ihr die windschiefe Treppe hinauf, die außen am Gebäude in den ersten Stock führte, und wartete, bis Maria die Wohnungstür aufgesperrt hatte.
Dahinter lag eine kleine düstere Kammer, in der es muffig roch. Katharina rümpfte die Nase und kam sich deswegen schäbig und überheblich vor.
Ein fadenscheiniger Vorhang teilte die kleine Kammer in zwei Hälften. Was sich in der hinteren befand, konnte Katharina nicht sehen, aber in der vorderen standen ein schmales Bett, eine Truhe und ein Waschgeschirr. Sonst waren außer einem mit einem Tuch abgedeckten Vogelkäfig, aus dem leise gurrende Geräusche kamen, keine weiteren Möbel vorhanden.
»Oh!«, rief Katharina aus und machte einen Schritt auf den Käfig zu. »Ihr haltet Tauben? Ihr habt offenbar heute morgen beim Fortgehen vergessen, sie aufzudecken.« Schon hatte sie die Hand nach dem Tuch ausgestreckt, als Maria erschrocken »Nein!«, schrie.
Katharina zuckte zusammen. »Ich wollte nur ...«
Maria glitt an ihr vorbei und zu dem Käfig. »Es ist schon gut«, sagte sie schnell. »Sie ... sie sind krank, müsst Ihr wissen. Das ist kein schöner Anblick, darum sind sie die meiste Zeit zugedeckt.«
Katharina nickte. Forschend blickte sie in Marias Augen. Dort flackerte wieder die alte Angst, und so hob Katharina beschwichtigend die Hände. »Keine Sorge, ich rühre den Käfig nicht an!«, versprach sie. »Ich werde sie Euch nicht wegnehmen.« Sie erinnerte sich an Marias kindliche Klage von eben.
Maria schien sich wieder etwas zu entspannen. »Ich danke Euch, dass Ihr Euch um mich gekümmert habt.«
Nickend nahm Katharina den Dank an, auch wenn sie ein schlechtes Gewissen dabei hatte. Schließlich war sie nicht ohne Eigennutz hier.
Maria wies auf die Tür. »Danke noch einmal.« Es war überdeutlich, dass sie Katharina aus der Wohnung haben wollte.
»Nun, dann ...« Katharina straffte die Schultern. Eine winzige Möglichkeit blieb, vielleich doch noch weitere Einzelheiten zu erfahren.»Ich wohne mit meiner Mutter im Henkershaus«, sagte sie und missachtete den überraschten Blick, den Maria ihr deswegen zuwarf. »Wenn Ihr glaubt, dass Ihr nochmals jemanden zum Reden braucht, dann kommt getrost! Ich würde Euch gern helfen, mit den Dingen, die Euch quälen, zurechtzukommen.«
Misstrauisch schaute Maria sie an. »Was treibt Euch zu einem solchen Angebot?«
»Ich bin Heilerin«, sagte Katharina. »Es ist meine Pflicht, Euch zu helfen.«
»Für Gotteslohn?«, fragte Maria. Um ihre Augen lagen kleine Falten.
»Für Gotteslohn.« Katharina ging zur Tür und griff nach dem Riegel. »Überlegt es Euch! Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die vergessenen Bilder Eurer Vergangenheit zusammenzusetzen. Wenn Ihr das wollt.«
Sie hoffte, dass Maria diesen Köder schlucken würde. Vielleicht würde sie tatsächlich kommen, und dann könnte Katharina behutsam versuchen, mehr über Dagmars Leben aus ihr herauszubekommen.
Sie zog die Tür auf, wartete, was Maria sagte.
»Wir werden sehen«, sagte sie.
Und Katharina ging. Es war nicht viel, aber auch ein kleines Stück Hoffnung konnte nicht schaden.
13. Kapitel
»Herr Krafft?«
Als er die leise, samtige Stimme hinter sich hörte, blieb Raphael Krafft stehen. Die Eimer an seinem Joch waren beide bereits recht voll, so dass er sich nur langsam und mit vorsichtigen Bewegungen umwenden konnte, um zu sehen, wer seinen Namen ausgesprochen hatte.
»Ah! Ihr!«
Vor ihm stand der rotblonde Kerl, der ihn neulich um den Urin gebeten hatte. Im Stillen hatte Raphael ihm den Namen »der Medicus« gegeben, und jetzt musterte er ihn mit einem mulmigen Gefühl. Wie bei ihrem ersten Zusammentreffen auch, trug der Medicus einen
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