Chiemsee Blues: Hattinger und die kalte Hand (German Edition)
Leben eingelegt ...“
„... und is wieder in ihre alte Heimat in Chiemgau gezogen.“
„Ja. Erst konnte ich es gar nicht glauben, aber sie sagte nur: Ich muss nach Hause, ich will nicht mehr weglaufen. Und ich will einen Bauerngarten ... Dann hat sie dieses Häuschen gefunden und angefangen Alles auf Anfang zu schreiben. Wir haben uns fast gar nicht mehr gesehen, so ist sie in dieser Arbeit aufgegangen, das schien wie eine Therapie für sie gewesen zu sein. Und jetzt ist sie tot ...“
Vera Antholz weinte wieder. Hattinger suchte nach Worten. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Das tut mir leid ... Sie haben uns sehr weitergeholfen, Frau Antholz.“
„Tun Sie mir einen Gefallen, Herr Kommissar?“
„Wenn ich kann, gern.“
„Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich möchte wissen, was passiert ist. Und wenn Sie noch weitere Fragen haben ... Ich denke, dass ich in ein paar Tagen zurück in München bin, ich muss sehen, wann ich einen Flug bekomme, aber ich möchte wenigstens bei Annettes Beerdigung da sein.“
„Gut, mach ich. Vielen Dank. Dann ... bis bald, Frau Antholz.“
„Machen Sie’s gut.“
Als sie aufgelegt hatte, saß Hattinger noch einige Minuten allein in dem Büro und notierte die wichtigsten Punkte des Gesprächs, nicht weil das nötig gewesen wäre – er hatte jedes Wort davon im Kopf –, aber es verschaffte ihm noch ein paar Minuten Ruhe, um die Stimme von Vera Antholz nachwirken zu lassen.
19
Er sah das Foto von Maria an, das in einem silbernen Rahmen vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Zwölf Jahre war sie auf dem alt, er hatte es an ihrem Geburtstag geschossen. Ein Schwarz-Weiß-Foto. An den Moment konnte er sich noch ganz genau erinnern. Maria war in die Küche gekommen und hatte ihre Geburtstagstorte entdeckt. Es war sein Lieblingsfoto von ihr, weil sie so unbeschwert und fröhlich lachte – direkt in die Kamera. Wie bezaubernd charmant sie gewesen war in dem Alter ...
An der Wand neben der Karte hing jetzt auch noch ein anderes von ihr, das hatte er erst nach ihrem Tod bekommen, von einer Klassenkameradin. Das Foto war farbig, aber ... mit Fröhlichkeit hatte es wenig zu tun.
Es war für ihn eher so etwas wie ein Steckbrieffoto. Es gehörte zu den anderen Steckbrieffotos an der Wand, es gehörte für ihn eigentlich schon zu ihrem Tod, nicht zu ihrem Leben.
In Erinnerung behalten wollte und würde er die 12-Jährige. Das andere Foto war eher ein Mahnmal dafür, was in ein paar Jahren aus einem jungen Menschen werden konnte. Sein liebes, bescheidenes kleines Mädchen war irgendwann zwischen zwölf und dreizehn verschwunden.
Mit zwölfeinhalb war es doch schon losgegangen ... was die Pubertät aus einem so reizenden kleinen Mädchen machte ... schlimm war das. Da war es doch losgegangen, dass sie seiner Kontrolle entglitt, dass sie plötzlich anfing, Widerworte zu geben, zu rebellieren, gegen die vernünftigsten Dinge, gegen alles, was bisher richtig und sinnvoll gewesen war. Dabei hatten sie Maria doch gut erzogen, sie hatten doch alles getan, um auf sie aufzupassen.
Das Farbfoto an der Wand hatte er ohnehin nur aus Gründen der Höflichkeit entgegengenommen, schlecht hätte er in der Situation sagen können, das will ich nicht haben. Ursprünglich wollte er es zerreißen, dann hatte er sich anders besonnen und es in Marias Mappe gelegt, bis er es vor ein paar Monaten herausgeholt hatte, um es an die Wand zu hängen. Als zusätzlichen Ansporn. Er hatte gespürt, dass er es jetzt brauchte ...
Das Foto strahlte etwas aus, das ihm helfen würde, sich neu zu motivieren, er wusste auch nicht warum, er spürte es nur. Jahrelang hatte er sich an das andere gewöhnt, bis er schon fast völlig verdrängt hatte, was eigentlich die Keimzelle der Katastrophe gewesen war.
Ihre Freundin, die es gemacht hatte, hatte dazu gesagt, es täte ihr leid – sie hätten nur ein bisschen Verkleiden gespielt, nur für sich selbst, das müsse er nicht so ernst nehmen, es sei ja sonst niemand dabei gewesen, er wolle es aber doch sicher trotzdem haben, jetzt, wo Maria nicht mehr da sei ...
Mittlerweile kannte er das Bild in- und auswendig, jedes Detail hatte sich in seinem Gedächtnis eingenistet und führte ihm schmerzhaft vor Augen, was er nicht hatte verhindern können. Er nahm seine Taschenlampe und leuchtete es an, so kam es in der Dunkelheit am besten zur Geltung.
Wenn Maria sich für diese Fotografie verkleidet hatte, dann war offensichtlich, was sie darzustellen beabsichtigt hatte:
Weitere Kostenlose Bücher