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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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erstaunlich.
    Der Lieutenant hatte sich wieder im Griff, doch Anna bemerkte sehr wohl, dass seine Hände nicht ruhig waren. Sie waren in den bekannten Rhythmus verfallen. Er war wohl zu müde, um es noch zu verbergen. «Ich entschuldige mich ebenfalls, allerdings nicht für Mister Seymour, sondern dafür, dass ich Sie seiner Gesellschaft ausgesetzt habe. Leider war es nötig. Immerhin wissen wir jetzt, dass die Franzosen hinter der Episode im August steckten.»
    «Ja, aber haben sie jetzt auch Leute im Haus?», fragte Lady Georgiana, sichtlich bemüht, die Spannung, die eben noch im Raum geherrscht hatte, aufzulösen. «Ich kann mir die Gérards kaum als Agenten vorstellen. Er hockt den ganzen Tag im Herrensalon, und sie lässt sich von ihren Töchtern auf der Nase herumtanzen und streitet sich mit Frau Göweil. Sie bezeichnete gestern beim Dinner den Spiritismus als billigen Hokuspokus! Ich dachte schon, die Frau Kommerzialrat trifft der Schlag.»
    «Wir kümmern uns wohl besser um das, was wir wissen: Der Kaiser hat also Agenten im Haus.»
    «Eigentlich eine Frechheit. Sie haben sich nicht einmal gross getarnt. Eine Gruppe deutscher Offiziere – also wirklich!»
    «Ich nehme an, sie gehören zur Sektion  III b, das ist der Nachrichtendienst des Heeres. Und dass das Reich sich nicht mehr Mühe gibt, seine Agenten zu verbergen, ist ziemlich raffiniert. Deutsche Offiziere auf Urlaub – das ist zu offensichtlich, um Verdacht zu erregen.»
    Anna stellte dankbar fest, dass sie ihr beide Glauben schenkten, ohne weiter darauf zu drängen, woher sie ihr Wissen hatte.
    Der Lieutenant erhob sich langsam und trat ans Fenster, das den Blick auf die Remise freigab. «Ich habe mir letzte Nacht überlegt, was genau in den Köpfen unserer Feuerteufel vorgehen mag. Wir sind davon ausgegangen, dass sie eine Räumung des Hotels oder zumindest dieses Flügels beabsichtigten, um die Suite nochmals durchsuchen zu können. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit: Was, wenn unsere Freunde denken, ich hätte die Unterlagen des Professors bereits gefunden? Ich habe die letzten Wochen hindurch an meinen Übersetzungen gearbeitet, und um wieder ein besseres Gefühl für die Sprache zu bekommen, habe ich Notizen in Japanisch gemacht. Ich habe gehört, wie die Zimmermädchen sich über meine ‹Geheimschrift› unterhalten haben. Ein misstrauischer Geist – und diese Art von Tätigkeit zieht nur solche Gemüter an – würde wohl davon ausgehen, dass ich bereits dabei bin, das Werk des Professors auszuwerten und aus Gründen der Geheimhaltung meine Notizen in einer ‹Geheimschrift› verfasse. Ich will Ihren Zimmermädchen nichts Böses unterstellen, Miss Staufer, aber könnte es sein, dass sie – sofern sie charmant befragt werden – schon mal etwas über Angewohnheiten der Gäste plaudern, die ihnen seltsam vorkommen mögen?»
    Anna sparte sich einen entrüsteten Widerspruch. «So leid es mir tut, das ist durchaus möglich. Helen und Edith haben sich dabei bestimmt nichts gedacht.»
    «Also gehen wir einfach einmal davon aus, dass diese Leute wissen, dass ich mit irgendwelchen geheimnisvollen Aufzeichnungen beschäftigt bin. Sollte nun ein Feueralarm erfolgen, was würde ich wohl unbedingt aus meinen Zimmern retten? Meine Notizen und natürlich das Manuskript mit der Hatvany-Chiffre. Im Durcheinander, das bei solch einem Notfall auftritt, wäre es nicht weiter schwierig, mich zu überfallen und mir diese Dinge abzunehmen.»
    Lady Georgiana war bei diesen Worten blass geworden. «Oh mein Gott!», war alles, was sie herausbrachte.
    Beim Gedanken, dass Jost vielleicht etwas in der Art mitangehört hatte, wurde Anna fast schlecht. Er wäre ohne zu überlegen auf die Verschwörer losgegangen.
    Der Lieutenant fuhr grimmig fort: «Das würde auch erklären, warum der Plan bisher nicht umgesetzt wurde. Es war nicht nur der schwere Schneefall, der sie davon abhielt, sondern auch der Umstand, dass sie wegen der unterbrochenen Zugverbindung das Tal nicht hätten verlassen können. Immer davon ausgehend, dass Herr Bircher einen solchen Überfall nicht mehr als Unfall oder Streich abtun könnte und es tatsächlich eine polizeiliche Untersuchung gäbe.»
    «Die Bahnlinie ist wieder offen, und es hat aufgehört zu schneien. Denkst du, sie werden es kommende Nacht versuchen?»
    Der Lieutenant meinte nachdenklich: «Ich bin inzwischen zum Schluss gekommen, dass Miss Staufer und ich die nächste Nacht durchschlafen können. Morgen ist Silvester,

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