Chiffren im Schnee
auch für die später erfolgte Zerstörung der Suite zuständig war. Er erhielt wohl entsprechende Order, nachdem die Franzosen die Papiere nicht in den Zimmern der Hatvanys in Nizza gefunden hatten.»
Der Lieutenant hob eine Hand: «Was genau hat dieser Mann denn gesehen? Ein Manuskript, an dem der Professor arbeitete. Handelte es sich um den Entwurf für eine Chiffre? War überhaupt Chiffre-Text zu sehen? Gab es Hinweise auf den Algorithmus oder den Schlüssel? Handelt es sich um eine Substitutions- oder Transpositionschiffre?»
Mister Seymour zuckte mit den Schultern. «Das sind Details, die so natürlich nicht in unserem Bericht auftauchten. Aber der Professor war einer der führenden Experten auf diesem Gebiet, also wird die Chiffre schon halten, was er versprochen hatte. Er schrieb, es sei ihm gelungen, alle Grundsätze Kockmeyers zu berücksichtigen, und das scheint ja wohl das Wesentliche zu sein.»
«Der Mann hiess Kerckhoffs. Könntest du dich wenigstens mit dem für eine Operation nötigen Grundwissen versorgen?»
«Was genau sind diese Grundsätze eigentlich?», liess sich Lady Georgiana vernehmen, sichtlich bemüht, die Wogen zu glätten. Mister Seymour fand die Frage wohl überflüssig, er murmelte: «Meine Liebe, das ist viel zu akademisch und hier nicht von Belang.»
«Es sind sechs Prinzipien oder Gesetze», sagte der Lieutenant, Mister Seymour ignorierend, «erstens sollte das Verschlüsselungssystem einfach zu transportieren und von einem Einzelnen zu bedienen sein. Zweitens muss es natürlich mit dem Telegraphen übertragbar sein. Drittens muss der Schlüssel adaptierbar sein, und Sender und Empfänger sollten ihn sich ohne Hilfsmittel merken können. Viertens bedarf es einer möglichst einfachen Anwendung, keine komplizierten Regeln, die ein Agent im Notfall nicht abrufen kann. Fünftens sollte die Chiffre faktisch, wenn auch nicht mathematisch, unentschlüsselbar sein. Und sechstens – und das macht, was wir hier tun, besonders verrückt – das System soll keiner Geheimhaltung bedürfen. Fällt es dem Feind in die Hände, kann es trotzdem weiter genutzt werden.»
«Das verstehe ich nicht.» Lady Georgiana blickte verwirrt von Mister Seymour zu Lieutenant Wyndham. «Wenn der Feind das System stiehlt, ist die Chiffre doch nichts mehr wert.»
«Nein. Eine Chiffre, die Kerckhoffs’ Prinzipien erfüllt, muss nicht mehr mit allerlei Zauber geheim gehalten werden. Es ist völlig egal, ob der Feind die Grundregeln der Chiffre, das heisst den Algorithmus, kennt und Nachrichten in Hülle und Fülle abfängt. Er wird trotzdem nichts damit anfangen können.»
«Aber dann hätte Professor Hatvany seine Chiffre doch ohne Weiteres allen Mächten übergeben können!»
Der Lieutenant lachte leise. «Ja, das hätte er wohl. Was glaubst du, warum ich von Anfang an darauf beharrt habe, dass an dieser Geschichte etwas nicht stimmt?»
«So ein Unsinn, die Chiffre selbst ist eine Waffe. Wer sie hat, ist anderen Nationen gegenüber im Vorteil», warf Mister Seymour ungehalten ein. «Wir befinden uns in einem erbarmungslosen Ringen und können es uns nicht erlauben, dem Feind auch nur den geringsten Vorteil zu schenken.»
«Cecil, bitte verschone mich mit solchen Phrasen. Ich glaube, es ist besser, wir kehren zu unserem eigentlichen Problem zurück. Woher wissen wir, dass die Franzosen bei der Suche am 1. August nicht fündig wurden?»
«Als unsere Verbündeten hätten sie uns das wohl mitgeteilt.»
«Mit diesem Mass an Naivität und Idiotie ist es ein Wunder, dass du es noch nicht weiter gebracht hast.»
«Ich finde deinen Sarkasmus bedauerlich fehl am Platze», sagte Mister Seymour eisig. «Diese Chiffre existiert und ist irgendwo hier im Hotel. Wie anders willst du dir all die seltsamen Aktivitäten erklären, die sich in den letzten Tagen hier zugetragen haben?»
«Das lässt sich ganz einfach damit erklären, dass eine falsche Spur gelegt wurde. Himmel, begreifst du denn nicht, dass ihr auf eure eigene Scharade hereinfallt?»
«Christian, du scheinst vergessen zu haben, dass du unserer Arbeit den Rücken gekehrt hast. Deine Meinung zu dieser Operation ist irrelevant, zumal du nicht alle Fakten kennst, die uns zu diesem Vorgehen bewogen haben.»
«Fakten? Was für Fakten denn? Ihr wisst gar nichts. Aber ihr schickt Menschen blind in Situationen, in denen sie dank eurer Ignoranz zu Schaden kommen. Noch schlimmer, ihr riskiert auch das Leben Unschuldiger. Du und wer auch immer in welchem Komitee
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