Chiffren im Schnee
wurde – es war keine glückliche Ehe. Wie Sie sich vorstellen können, gab es natürlich auch andere Erklärungen, warum die Liebe nicht anhielt. Aber ich verbreite nicht gerne üble Gerüchte. Wie auch immer – Lady Georgiana war noch sehr jung, als ihre Eltern sich trennten. Angesichts des Skandals war es gar keine Frage, dass die Kinder beim Vater blieben, zumal Lady Georgianas Bruder ja Titel und Ländereien erben wird. Man sagt, die beiden hätten nie wieder ein Wort mit ihrer Mutter gesprochen. Ich weiss nicht genau, was mit ihr geschah, aber natürlich hörte man so einiges. Die letzten Jahre allerdings lebte sie zurückgezogen in einer kleinen Villa am Zürichsee, es kann ihr also nicht schlecht ergangen sein. Sie starb diesen Sommer, ohne sich mit ihren Kindern versöhnt zu haben.»
«Oh, wie furchtbar – die Mutter so zu verlieren, muss ein junges Mädchen sehr treffen. Und dabei ist sie so eine fröhliche junge Dame!»
«Lassen Sie sich bloss nicht davon täuschen. Das ist eine junge Frau, die der Liebe misstraut. Wie könnte sie auch anders, nachdem das Band zwischen ihren Eltern nicht gehalten hat. Sie wird der Liebe nie vertrauen. Es ist eine Tragödie!»
«Aber, aber – immerhin ist Lady Georgiana verlobt. Der Gentleman ist eine sehr stattliche Erscheinung, wie wir gestern beim Dinner sehen konnten. Und nach allem, was ich gehört habe, steht ihm wohl eine glänzende Karriere bevor.»
«Oh, Cecil Seymour ist zweifellos eine hervorragende Partie. Die Verlobung mit ihm ist genau, was man von Lady Georgiana erwartet, und es ist genau das, was sie will.»
«Wie meinen Sie das?»
«Nun, es wird viel darüber getuschelt, dass Elinor Wyndham schlechtes Blut in die Familie brachte. Lady Georgiana will beweisen, dass sie nicht wie ihre Mutter ist – was angesichts der Tatsache, dass sie ihrer Mutter verblüffend ähnlich sieht, kein einfaches Unterfangen darstellt. Eine Verlobung mit Cecil Seymour, einem aufgehenden Stern im Unterhaus, wird ihr dabei helfen, den Schatten, der immer noch auf ihrem Haus liegt, zu vertreiben.»
«Verzeihen Sie, wenn ich so offen bin», meinte Madame Gérard zögernd. «Ich weiss ja, dass in England den Angelegenheiten des Herzens weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als in meiner Heimat, aber ist das nicht sehr berechnend von Lady Georgiana? Was ist mit Mister Seymour und seinen Gefühlen für die Dame?»
Mrs Havers erlaubte sich ein überraschend zynisches Lachen. «Sie haben gesehen, wie Lady Georgiana einen ganzen Raum voller Männer um den kleinen Finger wickeln kann. Für einen Politiker ist sie die ideale Frau. Man sagt, Cecil Seymour sei vielleicht nicht der brillanteste Kopf in der Riege junger Politiker, aber wenn es um seine eigenen Interessen und seine Karriere geht, macht er keine Fehler. Er wird seinen Weg machen, mit Lady Georgiana an seiner Seite sogar etwas schneller als geplant. Ich fürchte, das wird Ihre Meinung über unsere Nation nicht verbessern, doch für Cecil Seymour ist das mehr wert als alle Leidenschaft, die ihm eine Frau geben könnte.»
«Nun ja, es gibt ja noch andere Möglichkeiten, seinem Herzen zu folgen», meinte Madame Gérard nachsichtig. Mrs Havers quittierte diese Anspielung auf gallische Leichtlebigkeit mit eisigem Schweigen. Einen Moment lang war das Knacken der Buchenholzscheiter im Cheminée deutlich zu vernehmen. Madame Gérard schien die Missbilligung ihres Gegenübers nicht zu bemerken. «Was genau sind Mister Seymours Aufgaben im Unterhaus?», fragte sie leichthin.
«Er sitzt in irgendwelchen Ausschüssen und Komitees und ist Unterstaatssekretär im Kriegsministerium. Aber das ist ihm natürlich nicht genug. So etwas interessiert mich nicht wirklich – für uns Frauen sind solche Angelegenheiten doch nicht von Bedeutung, egal, was diese Suffragetten sagen mögen.»
Und damit wandte sich das Gespräch diesen furchtbaren Frauen und der Schande zu, die sie über das ganze Geschlecht brachten.
Anna war endlich fertig, sie erhob sich und verliess leise – von den Damen nicht weiter beachtet – den Salon. Da also hatte sie die Antwort auf die Frage, warum Lady Georgiana sich einen dermassen unmöglichen Verlobten ausgesucht hatte. Von Mrs Havers Neigung zu melodramatischen Wendungen abgesehen, ergab die Geschichte für Anna Sinn. Sie fragte sich allerdings, welche Rolle der Cousin aus der verpönten Familie der Mutter dabei spielte.
Sie machte sich auf den Weg nach oben, um die Ankunft eines Basler Ehepaares
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