Chiffren im Schnee
nehmen.
«An dem Abend ging es recht lebhaft zu. Ich habe Charles mehrmals beim Servieren und Abräumen geholfen. Da kann ein Gast ohne Weiteres hinter die Bar geschlüpft sein, ohne dass ich es bemerkt hätte.»
Er drehte sich zu Anna um und sagte nun heftig: «Beim Gedanken, dass diese Mörder so nahe sind, wird mir ganz schlecht. Wissen Sie wenigstens, warum sie es getan haben?»
«Wahrscheinlich, weil Jost etwas gesehen hat, das er nicht hätte sehen sollen.»
«Grundgütiger, was für ein Wahnsinn! Ich hoffe wirklich, Ihr Lieutenant legt diesen Leuten das Handwerk. Und dieses Mal soll er nicht so freundlich sein und danebenschiessen wie bei Giovanni – das können Sie ihm ruhig von mir ausrichten.»
Er hielt ihr die Tür auf, und schweigend gingen sie beide die Treppe hinunter. Als sie auf der Etage der Kleinen Suite angekommen waren, berührte er ihren Arm. «Passen Sie auf sich auf, Stauffacherin.»
Sie nickte und eilte dann den Gang entlang. Wahrscheinlich war Lady Georgiana schon dort, beunruhigt über Annas Ausbleiben. Zuerst Jost und nun Henning! Glaubten diese Leute denn, sie könnten tun und lassen, was sie wollten? Natürlich, warum nicht? Es hielt sie ja niemand auf. Um den schönen Schein zu wahren, half man ihnen sogar noch dabei, ihre Verbrechen zu verbergen. Man blickte einfach weg!
Vor der Tür zur Kleinen Suite musste sie einen Moment innehalten und sich sammeln. Als sie eintrat, konnte sie den Ausdruck der Erleichterung auf den Gesichtern von Lieutenant Wyndham und Lady Georgiana sehen.
Der dritte Anwesende stand an der Balkontür und vermied es, von ihr Notiz zu nehmen. Cecil Seymour war ein grosser, schlanker Mann mit akkurat gescheitelten Haaren. Er trug einen tadellos geschnittenen Morning Suit . Man sah nur selten Herren, die es mit der formellen Kleidung auf Urlaub so weit trieben.
«Wie ich schon sagte, das entspricht keinerlei Protokoll», meinte er und zupfte an seiner Manschette.
«Aber Cecil», wandte Lady Georgiana ein, «Paget weiss doch auch über alles, was ich tue, Bescheid.»
«Das ist etwas anderes. Paget kennt dich von Kindsbeinen an, und sie ist Engländerin. Es ist bekannt, dass die Schweizer mit der Macht sympathisieren, die uns im nächsten Krieg als Feind gegenüberstehen wird. Nein, ich kann das nicht gutheissen!» Nun erst wandte er sich um und musterte Anna mit einem abschätzigen Blick, der allerdings nichts mit ihrer Nationalität zu tun hatte.
«Was du gutheisst oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle, Cecil.» Lieutenant Wyndham klang müde und gereizt. «Miss Staufer bleibt, und entweder fahren wir fort, oder dieses Gespräch endet hier.»
«Nun, sie dürfte ja wohl nicht allzu viel von dem verstehen, was ich zu sagen habe.» Mister Seymour marschierte an Anna vorbei ohne sie eines Blickes zu würdigen und setzte sich neben Lady Georgiana auf das Sofa, sorgfältig darauf achtend, den Schoss seines Cutaway nicht zu zerknittern.
Lady Georgiana wurde rot, der Lieutenant zuckte mit keiner Wimper. «Bitte nehmen Sie Platz, Miss Staufer, wenn Mister Seymour doch schon so freundlich ist, Ihnen den Fauteuil zu überlassen.»
Anna kam der Aufforderung nach, und er fuhr fort: «Mister Seymour war eben dabei, uns zu erläutern, was er von der Lage hält, in der wir uns dank seiner gütigen Mithilfe befinden.»
Der Gentleman räusperte sich. «Nun denn, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, du hattest die Güte, mir vorzuschlagen, ich solle gefälligst wieder nach London verschwinden. Ich sehe nicht ein, warum du derart verärgert bist. Nach allem, was Georgiana mir erzählt hat, kommt nun endlich Bewegung in die verfahrene Situation.»
Es folgte ein bedrohliche Stille, schliesslich sagte der Lieutenant sehr leise: «Wenn du den Tod eines Unschuldigen als Zeichen eures Erfolges werten möchtest, nur zu.»
«Natürlich bedaure ich die Umstände des Todes des jungen Mannes sehr. Aber unzweifelhaft zeigt dieses Ereignis doch, dass hier im Haus fremde Agenten weilen und dass sie langsam nervös werden. Das lässt mich zu der Schlussfolgerung gelangen, dass sie die Chiffre auch noch nicht gefunden haben.»
«Die Chiffre, von der niemand weiss, ob sie überhaupt existiert und ob sie noch hier ist.»
«Da liegst du falsch, mein Lieber. Wir wissen, dass das Deuxième Bureau im Sommer einen Mann hier im Hotel hatte. Er schickte einen Bericht nach Paris, wonach er die Unterlagen gesehen hatte, an denen der Professor arbeitete. Wir vermuten, dass dieser Mann
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