Chiffren im Schnee
auch immer beschlossen hat, mich hier ohne mein Wissen als Lockvogel zu platzieren – ihr seid für Ammanns Tod ebenso verantwortlich wie jene, die ihm die Schlinge um den Hals gelegt haben!»
Mister Seymour schnippte ein unsichtbares Stäubchen von seiner grau gestreiften Hose. «Darüber kann man geteilter Meinung sein – aber wir drehen uns im Kreis. Es wäre um einiges sinnvoller, unsere Kräfte dahingehend einzusetzen, all die fremden Agenten im Haus zu identifizieren. Vielleicht führen sie uns ja zu der Chiffre.»
Lieutenant Wyndham schien am Ende seiner Geduld, und Anna beschloss, in das Gespräch einzugreifen. «Oberleutnant Ranke und seine Offizierskollegen arbeiten für den Geheimdienst des Kaisers», sagte sie ruhig. «Sie suchen ebenfalls nach der Chiffre, und sie wissen, dass im August bereits hier danach gesucht wurde.»
Drei Augenpaare wandten sich ihr erstaunt zu. Mister Seymour schien es für einen Moment die Sprache verschlagen zu haben, ein Zustand, der bedauerlicherweise nicht anhielt. «Nun, sehen Sie her, Miss. Diese Gentlemen mögen die Feinde Grossbritanniens sein, aber es sind Offiziere; Männer von Ehre! Es geht nicht an, dass Sie einfach derart schwere Vorwürfe erheben, zumal sie alle ein Alibi haben. Sie wissen vielleicht nicht, was das bedeutet – es heisst, dass die Offiziere mit dem Tod des jungen Burschen nichts zu tun haben.»
«Ich weiss, was ein Alibi ist, Sir. Die Deutschen haben nichts mit Josts Tod zu tun und sind trotzdem Agenten, das eine schliesst das andere nicht aus», entgegnete sie kühl. Sie war schon zu oft so herablassend behandelt worden, als dass das Ausmass seiner Arroganz sie noch hätte erstaunen können.
Mister Seymour hingegen schien sich einer Situation gegenüberzusehen, die er noch nicht erlebt hatte. Ärgerliche rote Flecken zeigten sich auf seinen Wangen. «Und woher wollen Sie das wissen?», presste er hervor.
«Das ist vertraulich.» Sie hatte nicht die geringste Lust, diesem Mann irgendetwas anzuvertrauen, das er zu gegebener Zeit gegen Henning würde verwenden können.
«Wie bitte? Nun hören Sie mir einmal gut zu, Miss: Ihnen wurde gestattet, an einer geheimen Operation teilzunehmen, die für die Interessen der Krone von höchster Bedeutung ist – ein Privileg, das nur wenige Ausländer erhalten. Das Verhalten, das Sie an den Tag legen, ist in keiner Weise akzeptabel!»
«Das reicht jetzt, Cecil!» Der Lieutenant hatte wohl endgültig genug. «Wenn Miss Staufer sagt, dass die Deutschen Agenten sind, dann glaube ich ihr. Und ich vertraue ihrem Urteil. Wenn sie die Quelle ihres Wissens nicht preisgeben will, so wird sie dafür gute Gründe haben.»
Mister Seymour stand auf und zog sich die Weste gerade. «Nun, Georgiana hat mich ja gewarnt, dass es dir nicht gut geht. Und ich weiss natürlich auch um deinen Entschluss, dir jede Erleichterung deiner Lage zu versagen. Sehr bewundernswert, aber ich würde sagen, diese Sache beeinflusst auch dein Urteilsvermögen. Auf jeden Fall halte ich es unter diesen Umständen nicht für angebracht, das Gespräch fortzusetzen. Was, wenn Miss Staufer ihre eigenen Absichten verfolgt, indem sie den Verdacht auf Oberleutnant Ranke und seine Kameraden lenkt?»
Lieutenant Wyndham sagte sehr leise: «Ich denke, es ist in der Tat besser, wenn du jetzt gehst.»
Lady Georgiana hatte während dieser Auseinandersetzung nur zu Boden gestarrt. Nun streckte Mister Seymour ihr seine Hand hin: «Komm, meine Liebe.»
«Gleich, Cecil», meinte sie leise. Für einen Moment dachte Anna, er würde darauf bestehen, dass sie ihn begleitete. Doch er riss sich zusammen und küsste stattdessen ihre Hand. «Lass mich nicht allzu lange warten.»
Als er zur Tür hinaus war, sagte Lady Georgiana: «Oh, Christian, das hat er nicht so gemeint.»
«Doch, das hat er – und wir beide wissen das sehr genau.»
Anna hatte den Eindruck, dass dies ein Streit war, den Cousin und Cousine schon oft geführt hatten.
Lady Georgiana wandte sich Anna zu. «Mister Seymour hat eine lange Reise hinter sich und ist deshalb ein wenig gereizt. Falls er Sie beleidigt hat, bitte ich um Verzeihung.»
«Machen Sie sich keine Sorgen, Mylady, unsereiner hat schon weitaus Schlimmeres zu hören bekommen.»
Lady Georgiana wusste, dass das nur eine Floskel war, sagte aber nichts mehr. Anna hingegen versuchte, das, was sie eben gesehen und gehört hatte, einzuordnen. Die Vertrautheit zwischen Lady Georgiana und Mister Seymour war mehr als
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