Chiffren im Schnee
Der nächste Zug kommt erst gegen halb vier Uhr hier an. Vielleicht möchte Mister Seymour Lady Georgiana ja begleiten?»
«Auf diese Frage dürften Sie die Antwort bereits kennen.»
Anna konnte sehen, wie er sich anstrengte, seine Hände ruhig zu halten. Er schien alleine sein zu wollen, doch sie war noch nicht bereit, ihn sich selbst zu überlassen. Sie zeigte auf seine rechte, zur Faust geballte Hand. «Gibt es nicht noch etwas anderes, um das wir uns kümmern sollten?»
«Es ist alles in Ordnung. Cecil Seymour hat einfach diese Wirkung auf mich.»
Sie ignorierte den Scherz. «Wenn es schlimmer wird, müssen Sie es mir sagen.»
«Ja, ich weiss.»
Sie musste ihm wohl oder übel vertrauen.
Friedrich, der Etagenportier, den Herr Ganz angewiesen hatte, für Jost einzuspringen, hatte bisher nicht viel zu tun gehabt. Er hatte die Mahlzeiten serviert, aber seine Nachfragen, ob er sonst noch etwas tun könnte, hatte der Gentleman stets abschlägig beantwortet.
Als nun am frühen Nachmittag die Klingel der Kleinen Suite losging, eilte er hocherfreut aus seiner Loge. Der Lieutenant stand an seinem Pult und schrieb. Er erteilte Friedrich ein paar knappe Anweisungen und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
Kurze Zeit später geleitete Friedrich einen verschlafenen Nachtportier des Splendid in die Kleine Suite, dann machte er sich auf ins Dorf, um etliche Besorgungen zu erledigen.
Als er zurückkam, traf er den Lieutenant immer noch beim Schreiben an, die Suite übersät mit beschriebenen Papierbögen. Das Geschreibsel ergab allerdings, so weit das Friedrich erkennen konnte, nicht gerade viel Sinn. Er hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn er wurde mit zwei Nachrichten in die Bar geschickt und danach mit einem grosszügigen Trinkgeld versehen wieder entlassen.
Bei ihrem nachmittäglichen Kontrollgang stellte Anna fest, dass die kleine Bibliothek im Damensalon wieder einmal durcheinandergeraten war. Da viele Damen den Lesesalon als männliche Domäne empfanden, gab es im Damensalon ein schmales, kleines Regal mit angemessener Literatur: Romane und Gedichte sowie einige erbauliche Werke. Das Regal befand sich in der Ecke hinter der Eingangstür und wurde von den Stubenmädchen regelmässig vergessen. Mit einem Seufzer kniete Anna sich hin, um die Bücher alphabetisch einzuordnen.
Zwei Damen betraten den Salon, eine von ihnen gehörte zu jener Gruppe, die Lady Georgiana so unhöflich jede Auskunft verweigert hatte. Mrs Havers war ein Stammgast des Hauses – eine liebenswürdige Dame aus London mit einer Neigung für gefühlsselige Romane und Klatsch. Ihre Begleiterin war zu Annas Überraschung Madame Gérard, die sich sonst nie mit englischsprachigen Gästen unterhielt. Bisher hatte Anna gedacht, sie könnte gar kein Englisch, doch da hatte sie sich wohl getäuscht.
Es geriet Anna wieder einmal zum Vorteil, dass man als Dienstbote als unsichtbar galt, denn die beiden gaben sich keine Mühe, ihre Stimmen zu senken.
«Natürlich, meine Liebe.» Mrs Havers, die ein altmodisches Korsett mit enger Schnürung trug, liess sich steif und etwas kurzatmig auf einem der beiden Sofas vor dem Cheminée nieder, in dem ein gemütliches Feuer knisterte. «Ich kann mich daran nur allzu gut erinnern. Lady Georgianas Vater ist ein Marquess, wie sie ja das ganze Hotel hat wissen lassen. Er verliebte sich in eine Frau namens Elinor Wyndham. Eine respektable Familie, aber nicht adelig. Ihr Grossvater hatte ein beträchtliches Vermögen gemacht – das hätte unter normalen Umständen ausgereicht, um den Standesunterschied vergessen zu lassen. Aber Elinor Wyndham war das schwarze Schaf der Familie. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Schauspielerin zu werden – so lernte der Marquess sie auch kennen, auf einer Tournee mit einer Theatertruppe, stellen Sie sich nur vor! Er verliebte sich Hals über Kopf, und zum Entsetzen seiner Familie heiratete er seine völlig unpassende Braut kurz darauf.»
Madame Gérard, die sich auf das gegenüberliegende Sofa gesetzt hatte, seufzte. «Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît pas.»
Anna konnte sich den Rest der Geschichte bereits zusammenreimen. Solche Verbindungen endeten selten glücklich.
Mrs Havers fuhr fort: «Es hiess, dass sie ihren Mann wirklich sehr liebte, doch sie hatte ihm ihre andere grosse Liebe geopfert, das Theater. Und vielleicht war das zu viel, oder es war einfach die Art und Weise, wie sie von Verwandten und Freunden ihres Mannes geschnitten
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