Chiffren im Schnee
Lady ungebührlich zu behandeln, doch wenn Sie Ihre Waffe nicht augenblicklich von der freien amerikanischen Presse nehmen, wird das für Sie bedauerliche Konsequenzen haben.»
Und damit zog er einen beeindruckenden Single Action Colt hervor, den er – den Hahn gespannt – auf die Dame richtete.
Endlich fuhr der Zug in den Bahnhof von Sternenbach ein. Lady Georgiana sah blass aus. Der Enthusiasmus, den sie noch vor zwei Tagen beim Gedanken, das Manuskript zu finden, gezeigt hatte, war verschwunden. Sie hatte Annas Erklärung staunend gelauscht und am Schluss gesagt: «Ich hoffe bei Gott, dass Sie richtigliegen.» Den Rest der Fahrt hatten sie in angespanntem Schweigen verbracht. Doch als der Zug hielt, stürmten sie beide aus ihrem Abteil, noch bevor der Bahnbeamte ihnen die Tür öffnen konnte. Sie rannten über den Perron in Richtung Bahnhofshalle.
Der Sternenbacher Bahnhof diente gleichzeitig auch als Post- und Telegrafenamt. In der Halle drängten sich zu dieser Stunde zahlreiche Gäste, um noch letzte Neujahrsgrüsse zu versenden.
Lady Georgiana stiess beim Eingang mit einer älteren Dame zusammen, die eben einen Stapel Telegramme aufgeben wollte. Die Bögen flatterten zu Boden. Lady Georgianas gute Erziehung hielt stand, sie half Anna beim Einsammeln, Entschuldigungen in mehreren Sprachen murmelnd. Neben ihnen beugte sich eine junge Frau ebenfalls herunter und half mit. Sie trug einen Hut mit schmaler Krempe, den sie sich mit einem breiten, um den Hals geschlungenen Chiffonschal unter dem Kinn in einer voluminösen Schleife festgebunden hatte. Elegante Damen trugen diese Mode für Fahrten in offenen Automobilen, um sich gegen den Fahrtwind zu schützen – in Sternenbach zeugte sie von der Absicht der Trägerin, sich mit Ski- oder Schlittensport vergnügen zu wollen.
«Und Sie sind sicher, dass sie noch in der Lingerie sind?», fragte Lady Georgiana, als sie sich wieder aufrichteten.
«Ganz sicher. Madame Dubois wirft nichts weg, was man noch brauchen kann. Es muss alles noch dort sein.»
Sie überreichten der Dame ihre Telegramme und hasteten, ihrer Dankesworte nicht achtend, aus der Bahnhofshalle in Richtung Splendid.
«Sollten wir nicht zuerst Lieutenant Wyndham Bescheid geben?», fragte Anna, die nicht vergessen hatte, dass der Lieutenant während ihrer Abwesenheit wohl eigene Pläne verfolgte. Sie wollte wissen, wo er war, und vor allem, wie es ihm ging.
Doch Lady Georgiana winkte ab. «Wozu? Wir sind ja gleich da. Und ich will sein Gesicht sehen, wenn wir ihm das Manuskript unter die Nase halten.»
Aller Augen waren auf den Konsul und Frau Göweil gerichtet, als auf einmal das Tor zur Remise mit einem hässlichen Quietschen aufgezerrt wurde. Eine junge Frau stürzte in den Raum, sie erkannte wohl nicht, was sich im Halbdunkel vor ihr abspielte, und rannte direkt auf Madame Gérard zu.
«Maman, Maman – die Gouvernante weiss, wo es ist! Sie und die Lady sind auf dem Weg in die Lingerie!»
Für einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen, dann zischte Madame Gérard: «Chut!»
Der Kapellmeister stöhnte leise und sagte ein Wort, das Christian von einem alten russischen Matrosen gelernt hatte. Es war der Situation durchaus angemessen. Christian warf einen Blick zu Henning, der in der Kutsche hilflos gestikulierte.
«Wo ist die Lingerie?», fragte Oberleutnant Ranke einen der Offiziere. Dieser zuckte nur mit den Schultern, und Ranke schnarrte: «Die Kenntnis des Terrains ist immer und überall unerlässlich!»
Die Lektion in Taktik wurde jäh unterbrochen, als jemand durch die Seitentür davonrannte.
«Der Kapellmeister weiss, wo das ist.» Der Oberleutnant packte seinen Kameraden am Revers. «Ihm nach!»
Ein Schuss knallte. Die Frau Kommerzialrat hatte in die Decke der Remise geschossen. Nun zerrte sie Mademoiselle Gérard am Schal, den diese um Hut und Hals geschlungen hatte, an sich und nutzte die junge Frau als Schutzschild.
«Niemand verlässt diesen Raum», keuchte sie, während sie ihre Geisel in Richtung Seitentür zog. Dort schubste sie Mademoiselle Gérard zu Boden und stürzte ins Freie. Mit einem lauten Knirschen drehte sich der Schlüssel von aussen im Schloss.
Christian handelte ohne nachzudenken, er liess den Spazierstock fallen und wollte zum Tor rennen. Doch er kam nicht weit, ein scharfer Stich in seinem Rücken erinnerte ihn daran, was er tun und was er nicht tun konnte. Er stolperte und stürzte auf den harten Steinboden, seine Hand fand Halt an der Deichsel der
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