Chiffren im Schnee
schnell loswerden? Aber geben Sie sie nicht dem Oberleutnant und vernichten sie sie auch nicht. Am besten überlassen Sie sie jemandem, dem der Oberleutnant nichts anhaben kann.» Mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung deutete er zum Konsul hin.
Inzwischen war alles für den Abtransport der Frau Kommerzialrat bereit. Mister Derringer erhob sich und sagte zum Konsul: «Sie werden nachlässig, Colonel. Eine solche Expedition unternimmt man nicht ohne Vorhut, um zu klären, ob die Luft rein ist.» Er machte Henning ein Zeichen, und die beiden verschwanden durch den Windfang nach draussen.
Kurz darauf ertönte ein leiser Pfiff, der Konsul hiess die Offiziere, die Bahre anzuheben, und ging voran. Madame Gérard zückte ein Taschentuch und hakte sich bei ihrem Gatten unter. So verliess die kleine Prozession die Waschküche.
Dass es hier auch noch einiges zu tun gab, schien den Herrschaften entgangen zu sein. Anna machte sich eilig daran, die Spuren zu beseitigen, so gut sie konnte. Die Wäscherinnen und Lingères konnten jeden Augenblick vom Mittagessen zurückkehren. Sie stellte den Bottich, den sie umgestossen hatte, wieder auf, sammelte die am Boden verteilten Wäschestücke ein und legte sie in einen der Waschtröge, zum Ausspülen blieb keine Zeit. Dann kehrte sie die Wasserlachen, in denen verräterische Jettperlen dümpelten, mit einem Reisigbesen in den Ausguss. Sie fachte das Feuer unter dem Kessel nochmals an, damit auch noch der letzte Überrest des Manuskripts zerkochte. Auf einer Fensterbank stand ein grosses Glas mit Natron, das zum Flecken-Einweichen benutzt wurde. Anna nahm eine Handvoll des weissen Pulvers, liess Wasser darüber laufen und spachtelte mit der Paste notdürftig das Loch in der Wand zu. So würde es zumindest für eine Weile unentdeckt bleiben. Als sie von ihrer Arbeit hochblickte, sah sie, dass sie mit Lieutenant Wyndham alleine war. Er stand an den Türrahmen gelehnt und beobachtete sie schweigend.
In dem Moment kehrten Henning und Mister Derringer zurück. «Da sind wir wieder. Sie sind inzwischen alle im Splendid angekommen.»
Mister Derringer beäugte den Lieutenant kritisch. «Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir Sie wieder in Ihre Suite verfrachten. Sie haben schon besser ausgesehen.»
Henning fügte hinzu: «Und wir sollten uns beeilen. Ich habe die ersten Lingères aus dem Splendid kommen sehen.»
Anna blickte um sich. Bis auf den Waschkessel mit der ruinierten Wäsche hatte sie hier alle Spuren beseitigt. Im oberen Stock würde Madame Dubois wohl die Vorhänge mit dem aufgetrennten Saum samt der ausgekippten Wäsche am Boden vorfinden, aber es war keine Zeit mehr, das in Ordnung zu bringen. Für einmal konnte man nicht die üblichen Verdächtigen, die Nachtbuben, ins Spiel bringen. Also würde der Verdacht auf ihre jüngeren Brüder fallen: Lausejungen aus dem Dorf hatten tatsächlich schon so einiges im Park und der Remise angestellt, zumal sich eine Bande heftig mit den Pagen bekriegte. Ein mittäglicher «Überfall» auf die Dépendance war durchaus vorstellbar.
Sie folgte den Männern nach draussen. Henning half dabei, den Lieutenant auf den Schlitten zu packen. Dann stiess Mister Derringer das Gefährt an und lenkte es geschickt durch den Park.
Anna machte sich an Hennings Seite auf den Rückweg ins Hotel. Nach einer Weile sagte er: «Was für ein verrückter Tag. Wo war denn nun dieses Manuskript versteckt, das alle so dringend haben wollten?»
Als sie es ihm erklärt hatte, meinte er kopfschüttelnd: «Darauf wäre wohl ausser Ihnen niemand gekommen. Warum nur wurde es ausgerechnet dort versteckt? Und warum haben es die Hatvanys bei ihrer Abreise nicht mitgenommen?»
«Das weiss ich auch nicht.» Vielleicht würde sie im Tagebuch der Frau Professor Antworten finden, doch der Gedanke behagte Anna nicht. Was immer dort stand, war nicht für ihre Augen bestimmt.
Sie erkundigte sich bei Henning, was genau der Lieutenant an diesem Vormittag alles angestellt hatte, um sämtliche Agenten im Splendid aus der Reserve zu locken. Sie waren bereits im Splendid, als er mit der Geschichte endlich fertig war. Etwas fassungslos nahm Anna zur Kenntnis, dass Mister Seymour den Lieutenant des Verrats bezichtigt hatte. Henning hatte zwar nicht genauer erläutert, was den Gentleman zu dieser Schlussfolgerung gebracht hatte, aber sie hatte eine Vorstellung.
Der Plan war wirklich beeindruckend simpel gewesen: alle Unruhestifter an einem Ort zu vereinen und ihnen dann mit
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