Chiffren im Schnee
sagen, es ist ein Segen, dass die Ehe kinderlos blieb.»
Es wurde zu viel; Fräulein Eberhardts eisige Erstarrung, das beleidigende Trinkgeld, das unaussprechliche Ende der Hatvanys, die altbekannte, verhasste Erklärung für ein Leid, das niemand verstehen konnte – die Lügen, das Vertuschen, die Heuchelei.
Es gelang Anna irgendwie, sich nichts anmerken zu lassen. Sie murmelte etwas von ihrer Zimmerstunde und verliess die Réception. Als sie die Hintertreppe erreicht hatte, rannte sie nach oben in ihre Kammer. Die Wände des Zimmers, für das sie so gekämpft hatte, schienen auf sie einzustürzen. Zum ersten Mal seit Jahren war sie nicht stärker als die Tränen, sie warf sich auf ihr Bett.
Als sie sich nach einer Weile wieder aufsetzte, waren die Kopfschmerzen bereits da. Wann war sie überhaupt das letzte Mal draussen an der frischen Luft gewesen? Sie musste ins Freie. Sie suchte, ihren Atem zu beruhigen, und wischte sich mit dem Handrücken die salzigen Spuren aus dem Gesicht.
Sie holte Hut und Mantel hervor, doch sie verliess das Hotel nicht gleich. Stattdessen ging sie ins Untergeschoss zur Abwaschküche, einem grossen, der Küche vorgelagerten Raum mit riesigen Becken, Tischen, Schränken und Gestellen. Dort nahm sie aus einem der Kessel, in denen Speisereste für die Schweinemast gesammelt wurden, ein paar fleckig gewordene Äpfel und Gemüsereste und wickelte alles in eine alte Zeitung ein.
Christian betrachtete den verschneiten Park durch das Fenster des Lesezimmers. Endlich hatte es geschneit, und er konnte sich kaum mehr bewegen. Bisher war es ihm gelungen, seinen Zustand vor Ammann zu verbergen – aber lange würde er es nicht mehr aushalten. Er lehnte den Kopf gegen das kühle Glas und suchte einen Ausweg. Schliesslich raffte er sich auf, wenn es schon sein musste, dann wollte er es wenigstens im Freien erledigen – er hatte nicht die weite Reise mit all ihren Strapazen auf sich genommen, um jetzt aufzugeben, ohne je Schnee unter seinen Sohlen gespürt zu haben. Ammann war mit einer Liste von Besorgungen im Dorf beschäftigt, die Gelegenheit war also günstig. Mühsam zog Christian Mantel und Stiefel an, griff nach Hut und Stock und machte sich auf den Weg zur Hintertreppe. Er hatte keine Lust, von dem scharfäugigen Concierge bemerkt zu werden.
Die Luft im Freien war kalt und frisch, ein bleiernes Licht hing unter der dichten Wolkendecke, aus der immer noch vereinzelt Flocken fielen, und die eigentümliche Stille des Winters lag über der Landschaft.
Ein Teil des Parks wurde langsam in ein Eisfeld verwandelt. Ammann hatte Christian die dumpfen Geräusche erklärt, die manchmal in der Nacht zu hören waren: Männer aus dem Dorf beim «Eisfeldklopfen».
Die verbleibenden Spazierpfade waren vom Schnee freigeräumt, man konnte sogar das Wäldchen am anderen Ende der Anlage erkunden. Christian machte sich auf den Weg dorthin und gelangte schliesslich zu einer kleinen Lichtung mit einer Parkbank, die ebenfalls vom Schnee befreit worden war.
Vorsichtig setzte er sich hin und holte das schlanke metallene Etui hervor. Es lag schwer in seiner Hand, er schloss die Augen und holte tief Luft. Er wollte für einen Moment die Ruhe des Winters spüren, bevor er sich in das Unausweichliche fügte.
Anna brauchte nicht gross auf ihre Schritte zu achten. Sie studierte die um Obst und Gemüse gewickelte Zeitung, um sich abzulenken. Die Affäre in Zabern wollte kein Ende nehmen. Herrn Brennwalds Worte fielen ihr wieder ein. Es gab also doch Menschen, die sich dem Militarismus verweigerten, ja sogar dagegen protestierten; viel Erfolg war ihnen aber nicht beschieden. Sie war so vertieft in ihre Lektüre, dass sie den Mann erst bemerkte, als sie die Lichtung betrat und er sich bewegte. Er beugte sich nach vorne – anscheinend war ihm etwas heruntergefallen. Sie sah den an die Bank gelehnten Spazierstock und trat näher.
«Guten Tag, kann ich helfen?»
Alles, was sie im Schnee erkennen konnte, waren winzige Glassplitter. Er setzte sich langsam wieder aufrecht hin, die einfache Bewegung machte ihm sichtlich Mühe – der Spazierstock rutschte zu Boden.
«Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden.» Er hatte Deutsch gesprochen, doch sie erkannte den leichten Akzent, der Stock war ein weiterer Hinweis.
«Lieutenant Wyndham?» Sie legte das Päckchen auf die Bank und bückte sich nach dem Spazierstock, auf Englisch fügte sie an: «Ist alles in Ordnung? Ich bin Anna Staufer, die Gouvernante des Splendid.
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