Chiffren im Schnee
ansehnlicheren Exemplar etwas genauer hinsehen. Und im Übrigen sind nicht nur die Damen neugierig. Giovanni hat sich furchtbar aufgeregt, als er hörte, der Lieutenant hätte seine Zimmer verlassen. Anscheinend möchte er den Gentleman auch einmal in Augenschein nehmen.»
«Giovanni?» Anna hatte es noch nicht geschafft, sich die Namen aller Neuankömmlinge im Personal zu merken.
«Giovanni, der Patissier – er war früher als Seiltänzer oder so etwas beim Zirkus, behauptet er jedenfalls. Aber dann ist er gestürzt und musste sich einen neuen Broterwerb suchen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob Zuckerbäcker wirklich seine Berufung ist. Ich habe gehört, dass man in der Küche nicht sehr mit ihm zufrieden ist.»
Es blieb Anna keine Zeit, den erstaunlichen Berufswechsel von Giovanni zu kommentieren, denn in dem Moment schneite eine neue Reisegesellschaft durch den Haupteingang. Eine fröhliche Gruppe junger deutscher Herren, deren Gepäck – zahlreiche Koffer und Ski – innerhalb kürzester Zeit das ganze Vestibül in Beschlag nahm.
Während Herr Ganz sich darum bemühte, Ordnung zu schaffen, musterten Anna und Henning die Neuankömmlinge. Anna erkannte die Mischung aus Eleganz und Schneidigkeit, die von Offiziersschule sprach. Henning beobachtete den Herrn, der anscheinend den Oberbefehl hatte: gross gewachsen mit dunkelbraunen Locken und einem Dichterblick, der so ganz und gar nicht zu der sonst so militärischen Attitüde passen wollte. Anna seufzte, als sie Hennings Faszination bemerkte, aber sie sagte nichts.
Er drehte sich mit einem Grinsen zu ihr um. «Nun, wie ich sehe, hat sich die Lage gewandelt. Da kommt doch ein hübsches Panorama für die Zimmermädchen und alle anderen, die so etwas zu schätzen wissen, zusammen.»
«Was ist heute nur mit den Menschen in diesem Hotel los? Man könnte wirklich meinen, man sei im alten Rom.»
«Nanu», meinte Henning und zog eine Augenbraue hoch, «das klingt aber so gar nicht nach Ihnen. Wer hat Sie denn so vergrätzt?»
Sie erzählte ihm von der Dame mit dem schweren Akzent und dem aufdringlichen Parfum. Er lachte leise.
«Das ist die Gräfin Tarnowska, mit Herrn Ganz hat sie es sich auch schon verdorben. Sie gehört zu jenen Gästen, die nicht nur zur Erholung bei uns weilen, sondern noch ganz andere Ziele verfolgen.»
«Aha, wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie wollte bereits einen Blick ins Gästebuch werfen?»
«Jawohl, richtig geraten. Angeblich hatte sie einen alten Bekannten im Vestibül gesehen, dessen Name ihr leider nicht mehr einfallen wollte – so peinlich und unangenehm.»
Die Gräfin war entweder auf der Suche nach einem vielversprechenden Heiratskandidaten oder gutbetuchten Geliebten – vermutlich eher Letzteres. Wahrscheinlich hatte sie den Fehler begangen, dem Concierge Geld anzubieten. Herr Ganz hatte zwar nichts gegen ein diskret verdientes Trinkgeld, aber plumpe Bestechungsversuche nahm er nicht an.
Anna war die letzten Tage über so beschäftigt gewesen, dass sie die Neuzugänge bei den Gästen kaum registriert hatte. «Haben wir denn Herren im Haus, die für die Dame interessant sein könnten?»
«Stauffacherin, Sie sind aber heute nicht bei der Sache. Habe ich nicht eben gesagt, dass es im Hotel nur Tattergreise gibt? Abgesehen von diversen militärischen Herrschaften natürlich. Da sind noch diese beiden langweiligen Ingenieure aus Schweden, die sich für die Streckenführung nach Sternenbach interessieren – nach Geld sehen die aber nicht aus. Und heute ist noch ein Mister Derringer aus Chicago eingetroffen. Er ist Journalist; da ist auch nicht viel zu holen. Die Dame wird sich noch etwas gedulden müssen, bis sie ihre Netze für einen grossen Fang auswerfen kann.»
«Tja, und in der Zwischenzeit begnügt sie sich mit kleinen Fischen.» Anna erzählte, was die Gräfin über Jost gesagt hatte.
Wie nicht anders zu erwarten, amüsierte das Henning ungemein. «Machen Sie sich um Jost keine Sorgen. In ein paar Tagen, wenn die gutbetuchten Herren eintreffen, ist seine Tugend sicher.»
Und mit dieser frivolen Bemerkung verschwand er wieder in sein Reich; wahrscheinlich, um alles perfekt für den Willkommenstrunk der Herren Offiziere vorzubereiten.
Anna trat zu Herrn Ganz, der die militärische Gesellschaft samt Gepäck inzwischen erfolgreich auf ihre Zimmer verfrachtet hatte. Sie erstattete ihm kurz Bericht und erwähnte auch Josts Kummer. Er hörte besorgt zu.
«Nun ja, es klingt, als hätte der
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