Chiffren im Schnee
betrachtete ihn ratlos; er seufzte. «Das kommt von Ihrem tugendhaften Leben, Stauffacherin. Der Tröster der Damen und Dichter natürlich: Laudanum.»
Ein Schauer überlief Anna. Wie viel Laudanum war in der Füllung? Sie wusste nicht, was eine angeblich harmlose Menge für den Lieutenant bedeutet hätte. Aber zu viel von dem Zeug konnte jemanden umbringen; im Apothekerschrank des Splendid gab es deshalb keine Mohntinktur, obwohl immer wieder Gäste danach verlangten.
Henning legte die Gabel auf den Teller zurück. «Tja, aus unserem Frühstück wird wohl nichts. Was sollen wir damit tun?»
«Ich will wissen, wer diesen Kuchen zubereitet hat und wieso der Etagenkellner ihn dort hat stehen lassen.»
«Ein Glück, dass der gute Lieutenant keine Naschkatze ist. Obwohl er etwas von einer Katze an sich hat, nicht wahr? So eine angespannte Ruhe, dass man nie weiss, was als Nächstes kommt. Ich bin wirklich froh, dass die Kugel in der Tapete und nicht in seinem Schädel steckt, wie ich dachte, als ich den Schuss hörte. Um Weihnachten geschehen ja gerne Unfälle mit Waffen. Um so eine Fassade wäre es schade gewesen.»
«Henning!»
Er hob die Hände. «Schon gut, schon gut. Wir sollten uns auf das Wesentliche konzentrieren. Und das bedeutet, wir müssen uns in die Unterwelt begeben.» Er warf einen Blick auf seine Uhr. «Um diese Zeit müssten wir eigentlich schon jemanden antreffen. Vielleicht kriegen wir sogar eine Tasse Kaffee, wenn wir höflich anfragen.»
Henning nahm den Teller, und gemeinsam gingen sie in das Untergeschoss. Gleich neben der Abwaschküche lag die Kaffeeküche, in der die Kaffeeköchin herrschte, die für die Zubereitung aller heissen Getränke zuständig war. Vorratsräume und Magazine folgten entlang einem schmalen Gang hinter der Kaffeeküche. Auf der anderen Seite des Ganges befand sich das Herzstück des Splendid, die riesige Küche. Für alle, die nicht dem Küchenpersonal angehörten, war dies ein verbotenes Reich. Hier wurde gebrüllt und getobt, in keinem Bereich des Hotels ging es heftiger zu und her. Während der Coups de Feu zur Lunch- und Dinnerzeit flogen schon mal Messer und Töpfe durch die Luft, und die Küchenjungen konnten einem leidtun. Die Küchenmannschaft war in Parties eingeteilt, in denen die verschiedenen Speisen unter der Aufsicht eines Chef de Partie von den Commis zubereitet wurden. Für den Kuchen war die Partie der Pâtissiers zuständig, die in der Pâtisserie hinter der Küche arbeiteten.
So früh am Morgen, es war kurz vor halb sechs, konnte man sich noch hineinwagen, ohne von wütenden Köchen gleich wieder verjagt zu werden. Es herrschte gespenstische Ruhe, nur ein paar der Küchenjungen taumelten verschlafen durch die Räume.
Frau Lanz, die Kaffeeköchin, tauchte auf und liess sich von Henning überreden, ihm und Anna einen frühen Kaffee zuzubereiten. Dann erschien Herr Hoffmann, der Chef Gardemanger , der für Einkauf, Lagerung und Zuteilung der Lebensmittel zuständig war und seinen morgendlichen Kontrollgang durch die weiss gekachelten Lagerräume machte.
Auf Annas Frage, wer den Streuselkuchen gebacken hatte, zuckte er mit den Schultern: «Hat einer der Gäste sich beschwert? Dann war es wahrscheinlich Giovanni. Der wird eh nicht mehr lange hier sein, nach allem, was man so hört.»
Anna dankte ihm für die Auskunft, und er verschwand in die Lagerräume. «Natürlich», meinte sie zu Henning.
«Natürlich was?» Henning betrachtete sie verwirrt.
Anna verbiss sich eine ungeduldige Bemerkung. Henning war die ganze Nacht wach gewesen. «Sie sagten doch, Giovanni wäre beim Zirkus gewesen – ein Akrobat. Von einem Balkon zum anderen zu klettern, ist für ihn kein Kunststück. Die Balkontür ist einfacher als die Zimmertür aufzubrechen, und es besteht weniger Gefahr, dass man dabei des Nachts gesehen wird.»
«Aber warum sollte Giovanni so was tun? Stauffacherin, das klingt schon ein bisschen verrückt.»
«Genauso wie ein mit Laudanum gefüllter Streuselkuchen. Jede Wette, Giovanni ist nicht mehr im Haus aufzufinden. Wenn er unschuldig im Bett liegt, dann habe ich mich eben geirrt.»
Henning anerbot sich, den untalentierten Zuckerbäcker aus den Federn zu holen. Anna brachte die Tassen in die Abwaschküche zurück und bedankte sich bei Frau Lanz, die im Personal-Speisesaal dabei war, den Tisch für das Morgenessen zu decken.
Während Anna Henning nach oben folgte, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Jemand hatte sich die Mühe gemacht,
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