Chiffren im Schnee
fürchtete, sondern weil sie wusste, dass er – sollte es zu einem Skandal kommen – alleine den Preis dafür zahlen musste. Der Patron und Herr Ganz sowie das ältere Personal mit etwas mehr Lebenserfahrung wussten alle Bescheid. Und alle sahen sie weg, denn was die Gäste wünschten, das sollten sie auch erhalten.
Doch selbst wenn es erlaubt gewesen wäre, über diese Dinge zu sprechen, hätte Anna ihre Bedenken in diesen Tagen kaum Herrn Ganz gegenüber erwähnt. Er hatte ebenfalls alle Hände voll zu tun und sich um grosse und kleine Sorgen der Gäste zu kümmern. Und dann trug sich kurz vor Weihnachten ein Exemplar jener Spezies ins Gästebuch ein, die Herr Ganz am meisten fürchtete, weil sie stets Unruhe unter die Gäste und Kummer für das Personal brachte.
Herr Ganz war ein vorbildlicher Concierge: Anspruchsvolle Schauspielerinnen, Heiratsschwindler, trinkfeste Studenten, Damen von zweifelhaftem Ruf – mit ihnen allen wurde er fertig. Aber die meist etwas älteren Damen, die Tische rückten, angeblich Präsenzen fühlen konnten und ständig auf der Suche nach Spuren der «anderen Seite» waren, brachten ihn zur Verzweiflung. Und jede Saison tauchte mindestens eines dieser düsteren Geschöpfe auf.
Frau Kommerzialrat Göweil aus Salzburg erkundigte sich bei ihrer Anreise als Erstes nach der Vorgeschichte ihres Zimmers. Man musste ihr versichern, dass dort noch nie ein Gast das Zeitliche gesegnet hatte. Dessen Aura würde sie nämlich bei Gesprächen mit ihrem verstorbenen Gatten empfindlich stören.
In Chiffon und schwarze Seide gehüllt, Besätze und Aufschläge mit klimpernden Jettperlen verziert, huschte die Frau Kommerzialrat stets in halblautem Zwiegespräch mit dem verstorbenen Herrn Kommerzialrat durch die Gänge des Splendid. Es war nicht verwunderlich, dass manche der Zimmermädchen bei ihrem Anblick verstohlen ein Kreuz schlugen.
Die Dame war auch bei Herrn Schmied, dem Maître d’hôtel, nicht sonderlich beliebt. Er hatte seine liebe Mühe, sie an der Tafel zu platzieren, denn die meisten Gäste wollten die hervorragende Küche des Hauses möglichst ohne morbide Konversation geniessen. Bereits am ersten Abend kam es zu einem unerfreulichen Zwischenfall mit Madame Gérard, die ihre Bemühungen, an der Tafel romantische Konversation zu pflegen, durch Botschaften aus der anderen Welt nicht eben gefördert sah.
Trotz all des Wirbels vergass Anna den Lieutenant nicht; wie hätte sie das auch gekonnt, trug sie für ihn doch die grösste Verantwortung. Trotzdem oder gerade deswegen blieb sie der Kleinen Suite fern. Sie war sich sicher, ihr Anblick war für ihn nicht erfreulich, gemahnten sie und das, was sie bei sich trug, ihn doch immer an seine vermeintliche Schwäche.
Sie liess sich aber regelmässig von Jost Bericht erstatten. Anscheinend war die Krise vorbei, und der Lieutenant widmete sich wieder seinen Schreibarbeiten. Kurz vor Weihnachten beklagte sich Jost allerdings über seinen Dienstherren. Dieser hatte ihn angewiesen, Heiligabend zu seinem Vater zu fahren und sich bis zum nächsten Tag nicht mehr im Splendid blicken zu lassen. Es hörte sich an, als hätten Dienstherr und Valet über diese Frage einen regelrechten Strauss ausgefochten. Jost wollte den Lieutenant nicht eine ganze Nacht alleine lassen, und dieser wiederum verwahrte sich gegen die Vorstellung, nicht einmal für etwas länger ohne seinen Valet auskommen zu können.
Anna, der der Dienstplan für die Festtage bereits einiges Kopfzerbrechen bereitete, erklärte Jost, er wäre undankbar, und schickte ihn seiner Wege. Der Gedanke, dass der Lieutenant ausgerechnet zu Weihnachten ganz alleine sein sollte, gefiel ihr auch nicht. Herr Ganz sicherte ihr zu, dass nötigenfalls einer der Etagenportiers für Jost einspringen würde. Mehr konnte man nicht tun.
Heiligabend kam, und wie üblich gab es bei der Feier für das Personal Tränen und bedrückte Gesichter. Für manche der Mädchen und der Pagen war es die erste Weihnacht weg von zu Hause. Anna, die für die Feier verantwortlich war, tröstete, so gut sie konnte. Norbert, ein Page, der seine erste Saison im Hoteldienst leistete, brachte vor Kummer kaum einen Bissen herunter. Schliesslich überredete Anna Herrn Ganz, den Dienstplan so zu ändern, dass der Junge am Stephanstag seine Familie besuchen konnte.
Herr Bircher, der mit den Gästen feierte, tauchte ebenfalls kurz auf und verteilte Geschenke. Der Patron zog es vor, an Feiertagen nicht alleine in seiner Villa zu
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