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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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kurzatmig und rot im Gesicht, und Henning, der wohl noch in der Bar aufgeräumt hatte. Er war eben dabei, dem Lieutenant in seinen Schlafrock zu helfen. Anna stellte erleichtert fest, dass niemand verletzt war.
    «Ich habe mir nichts eingebildet», sagte der Lieutenant zu Direktor Bircher. «Es war jemand hier, jemand, der meine Räume durchsucht hat.» Er setzte sich in seinen Lesesessel. Annas Blick fiel auf seine Hände. Sie waren ruhig.
    «Aber ich sehe hier keine Spuren eines Einbruchs», meinte der Patron ungnädig. Das war nicht ganz richtig, die Balkontür stand offen. Er schloss sie. «Das war nur der Wind, manchmal sind die Riegel etwas locker.»
    Tatsächlich schneite es, aber von einem Sturm hatte Anna nichts bemerkt. Direktor Bircher blickte seufzend zu der Stelle rechts des Türrahmens, wo die Kugel eingeschlagen war. Der Anblick einer weiteren ruinierten Tapete in diesen Räumen machte ihm sichtlich zu schaffen. «Es ist sehr gefährlich, im Dunkeln mit Waffen zu hantieren. Zum Glück ist niemand verletzt worden.»
    «Das hat mit Glück nichts zu tun», war die kühle Antwort, «ich habe mit Absicht vorbeigeschossen. Ich wollte den Eindringling nur verjagen. Wäre es hell gewesen, hätte ich ihn aufhalten können, ohne ihm grösseren Schaden zuzufügen, und Sie könnten ihn jetzt verhören.»
    Diese doch einigermassen arrogante Behauptung wurde vom Patron kopfschüttelnd aufgenommen. In diesem Moment traf Herr Ganz ein, atemlos und ohne Krawatte. Es war doch ein hübsches Stück Weg von seiner kleinen Wohnung in der Dépendance zum Hotel.
    Während der Direktor den Concierge über das Geschehene aufklärte, unterzog Anna den Raum einer eingehenden Prüfung. Wer immer sich hier zu schaffen gemacht hatte, war diskreter vorgegangen als sein sommerlicher Vorgänger. Sie trat etwas näher an die Balkontür und warf einen Blick hinaus. Es hatte die letzten Tage über nicht geschneit, und so lag nur noch unter dem Geländer ein wenig Schnee; es gab keine Spuren eines Einbrechers. Sie wandte sich dem Tisch zu, auf dem Lieutenant Wyndhams Mahlzeiten serviert wurden. Dort stand ein einzelner Teller mit einem Stück Streuselkuchen; Streuselkuchen hatte nicht zum Weihnachtsdinner gehört.
    «Was ist das?»
    Die belanglose Frage schien alle bis auf den Lieutenant zu überraschen; er hatte sie die ganze Zeit über beobachtet und antwortete nun: «Das Dessert des gestrigen Dinners; mit Mohnsamen gefüllter Kuchen. Ich mag keinen Mohn, und der Etagenkellner hat vergessen, den Teller abzuräumen.»
    Natürlich mochte er keinen Mohn. Anna fragte Herrn Ganz: «Wer hatte denn hier Dienst?»
    Der Patron winkte ungeduldig ab. «Fräulein Staufer, das spielt doch nun wirklich keine Rolle. Wir haben hier Wichtigeres zu besprechen.»
    Herr Ganz hatte sich inzwischen daran gemacht, mit einem Bleistift die Tiefe des Einschussloches zu sondieren. Stirnrunzelnd betrachtete er das niederschmetternde Ergebnis. Die Handwerker würden wieder ordentlich zu tun haben.
    Anna griff nach dem Teller und gab Henning ein Zeichen, ihr zu folgen. Während sie wortlos durch den Gang stapfte, eilte er neben ihr her. Als sie ausser Hörweite waren, sagte er: «Stauffacherin, langsam aber sicher glaube ich wirklich, diese Suite ist verhext. Schon wieder ein Einbruch – da soll noch jemand von ‹Zufall› sprechen!»
    «Es gibt keine Zufälle», meinte Anna grimmig, lief eilig die Treppen hinunter und bog dann Richtung Bar ab.
    «Also gut, was tun wir hier mit diesem Stück Kuchen? Wollen wir es zusammen mit einem Gläschen Portwein als ausgesprochen dekadentes Frühstück geniessen?»
    «Ich brauche eine Gabel», gab Anna knapp zur Antwort. Henning verschwand hinter der Theke und reichte ihr das Gewünschte. Anna brach damit eine Ecke des Kuchens ab.
    «Auf keiner Speisekarte im Haus war Streuselkuchen mit Mohnfüllung aufgelistet», meinte sie ruhig.
    «Oho – das ist ja interessant. Ein Mohnkuchen im Zimmer eines Gastes, dessen Zimmer man durchstöbern wollte. Lassen Sie mich einmal Sherlock Holmes spielen.»
    Er nahm ihr die Gabel ab und balancierte das Stück auf Augenhöhe. Die Mohnfüllung schimmerte dunkel und feucht. Bevor Anna ihn davon abhalten konnte, hatte er davon gekostet. «Hmm, ja – viel zu viel Gewürz drin und trotzdem ist es noch bitter. Nun, was schmeckt bitter, ist einfach zu beschaffen und kommt jemandem gelegen, der gerne ungestört ein Zimmer durchstöbern möchte, während dessen Bewohner schlafen sollte?»
    Anna

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