Chiffren im Schnee
Personal Hals über Kopf abreist. Dafür gibt es ganz harmlose Erklärungen: Herzensangelegenheiten, Heimweh – an Weihnachten besonders schlimm – oder einfach nur Faulheit.» Er holte tief Luft und hob den Zeigefinger wie ein Schulmeister. «Nun hören Sie mir gut zu, Fräulein Staufer. Ich habe eben mit Herrn Doktor Reber telefoniert. Der Lieutenant leidet immer noch starke Schmerzen und muss Morphium nehmen; das führt bei manchen Menschen zu Halluzinationen. Der Doktor ist mit mir einer Meinung, dass es keinen Einbrecher gegeben hat. Ich verständige jetzt Wachtmeister Wirz; es muss natürlich ein Protokoll von dem Vorfall aufgenommen werden. Aber damit ist die Sache dann auch erledigt.»
«Giovanni kann nicht weit sein – man könnte ihn noch abfangen und befragen.»
«Wozu das denn? Er ist davongelaufen, ohne seinen Lohn – das ist alles. Auf Neujahr sollte ihm eh gekündigt werden. Zum letzten Mal: Es hat keinen Einbruch gegeben, und deshalb muss ich auch keine Diebesjagd in Gang setzen. Die medizinischen Probleme des Lieutenants reichen als Erklärung für den Vorfall aus.»
Das wollte der Patron also aller Welt verkünden. Ein paar diskrete Andeutungen würden genügen. «Der arme Mann wollte sich etwas Linderung von seinen Schmerzen verschaffen und hat es wohl übertrieben.» Den Rest würde man sich dann zusammenreimen. Die Reputation des Hauses blieb gewahrt.
So leicht sollte es sich der Patron nicht machen. Anna schob ihm den Teller zu. «Wenn Sie das wirklich glauben, Herr Direktor, dann essen Sie doch etwas Streuselkuchen.»
Das cholerische Gemüt des Patrons begann sich nun bemerkbar zu machen. Sein Gesicht lief in einem tiefen Rot an, das sich gar nicht schlecht mit der Farbe seines Schlafrocks vertrug.
«Sie nehmen sich zu viel heraus, Fräulein Staufer», meinte er, und kaum unterdrückter Zorn machte sich in seinem schweren Atem bemerkbar. «Mir hat eine Gouvernante gereicht, die sich wilden Hirngespinsten hingegeben hat. Fräulein Hartlaub war in einem Alter, in dem gewisse unerfreuliche Phänomene auftreten können. Diese Entschuldigung haben Sie nicht. Ich weiss aber, dass es in Ihrer Familie auch schon Vorfälle gegeben hat, die von geistiger und moralischer Instabilität zeugen. Es täte mir sehr leid, wenn sich nun herausstellen würde, dass Sie auch betroffen sind.» Und damit nahm er den Teller, kippte den Inhalt in den Papierkorb und lehnte sich dann mit zufriedenem Gesichtsausdruck in seinen gepolsterten Stuhl zurück.
Anna brachte kein Wort heraus, sie strich ihren Rock glatt, damit er nicht sah, dass sie zitterte, und wie im Traum verliess sie das Bureau. Sie war bereits im Vestibül, wo sich Herr Ganz mit Herrn Neumeyer unterhielt, als sich die Tür hinter ihr nochmals öffnete und der Patron ihren Namen rief; sie wandte sich um.
«Noch etwas: Hören Sie damit auf, ein solches Interesse an Lieutenant Wyndham zu zeigen. Ich weiss sehr wohl, dass Sie letzthin in aller Herrgottsfrühe schon in der Kleinen Suite waren, und auch, dass Sie Ammann ständig nach dem Herrn ausfragen. Es könnte ein falscher Eindruck entstehen, und das ist für jemanden in Ihrer Position gar nicht gut. Ich will Sie nicht mal mehr in der Nähe der Kleinen Suite sehen.»
Er schloss die Tür so heftig, dass das Glaspaneel klirrte, ohne auf eine Erwiderung zu warten.
Anna verharrte für einen Moment regungslos. Das Gespräch zwischen Herrn Neumeyer und Herrn Ganz war verstummt. Ein verschlafener Kellner, der eben mit Kaffee und Croissants aus der Küche hereilte, war ebenso Zeuge dieser Szene geworden wie der Hausknecht, der gerade mit einer Schaufel die Eingangstreppe hatte frei räumen wollen. Der Patron hatte sie mit Absicht so öffentlich abgekanzelt, um sicherzugehen, dass sie sich an seine Anweisungen hielt. Das Personal würde heute wahrlich ausreichend Gesprächsstoff haben.
Mit gesenktem Kopf hastete Anna durch das Vestibül. Sie war froh, als sie den Gang zur Bar erreichte, in dem kein Licht brannte. Henning konnte ihr hoffentlich dabei helfen, sich zu beruhigen. In dem Moment sah sie Oberleutnant Ranke aus der Bar kommen. Einen fröhlichen Marsch vor sich hinsummend verschwand er auf der Hintertreppe nach oben, ohne Anna zu bemerken.
In der Bar war Henning dabei, zwei letzte Gläser zu spülen. «Stauffacherin, man hat mich gerade gebeten, den Herren Offizieren beim Organisieren eines Weihnachts-Skirennens für alle Gäste zu helfen. Mit etwas Glück kann ich mich noch für eine
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