Chiffren im Schnee
sitzen. Er würde diese Nacht in dem kleinen, extra für solche Gelegenheiten eingerichteten Zimmer neben seinem Bureau zubringen.
Anna erhielt von ihm eine Schachtel Briefpapier, von den Zimmermädchen bestickte Nadelbüchlein, von Herrn Ganz ein neues Notizbuch und von Henning ein hübsches kleines Taschenmesser mit einem Perlmuttgriff, für das er der alten Tradition entsprechend, dass man Messer nicht verschenken darf, einen Kuss verlangte, den Anna ihm unter allgemeinem Gelächter auch gab.
Es waren schöne Geschenke, und doch hatte Anna das Gefühl, sie alle galten der Gouvernante und nicht Anna Staufer; das war undankbar und sie schämte sich. Lediglich Madame Dubois tanzte mit ihrem Geschenk aus der Reihe: ein wunderschön geschnitzter Hornkamm, geschmückt mit einem fächerförmigen Gitter, über das sich Blumen rankten.
Herr Bircher drang keineswegs darauf, dass seine Angestellten ihren religiösen Pflichten nachkamen – sehr zum Verdruss von Hans. Doch es war Weihnachten, wer zur Christmette wollte, sollte das auch tun können. Anna entliess die Mädchen, die ihr beim Aufräumen des Speisesaals halfen, und machte alleine weiter.
Sie war froh, dass die Feier zu Ende war. Weihnachten war niemals eine einfache Zeit; doch dieses Jahr war alles noch schlimmer. Sie war müde, und das Gefühl, eingesperrt zu sein, wollte nicht nachlassen. Die Rolle der untadeligen Gouvernante schien auf einmal weniger ein Ausweg als vielmehr eine Sackgasse zu sein. Die Verwandlung hatte mehr gekostet, als sie gedacht hatte – das zumindest begann sie jetzt zu sehen.
Am schlimmsten aber war die Erkenntnis, dass man sie widerspruchslos in dieser Rolle annahm. Niemand schien damit zu rechnen, dass sie Wünsche und Träume und Sehnsüchte haben könnte, die über eine aufgeräumte Wäschekammer hinausgingen. Das Lachen, als sie Henning geküsst hatte, war nicht nur gutmütig gewesen.
Endlich war sie fertig, sie legte ein paar vergessene Schokoladentaler für die Pagen in eine Blechdose und machte nochmals eine langsame Runde um den Christbaum, um zu prüfen, ob alle Kerzen ausgelöscht waren, dann ging sie mit ihren Geschenken nach oben.
Als sie endlich im Bett lag, schien sie das Gelächter wieder zu hören. Entschlossen schob sie die Erinnerung zur Seite und ging im Kopf nochmals die für den kommenden Tag anstehenden Arbeiten durch.
Sie musste noch dafür sorgen, dass am Morgen ein Früchtekorb für die Kleine Suite zusammengestellt wurde. Der Patron würde den Korb dann persönlich samt seinen Weihnachtswünschen abliefern. Ob sie bei Herrn Brehm ein paar Chrysanthemen zum Dekorieren der Früchte besorgen sollte?
Ihre Gedanken wanderten zu Lieutenant Wyndham, der Weihnachten allein mit seinen Büchern verbrachte. Es war keine gute Zeit für einsame und kranke Gäste. Aber was konnte sie da schon tun?
Der Schlaf wollte nicht kommen, sie machte das Licht an und holte nochmals den Kamm von Madame Dubois hervor. Sie würde das Stück nie tragen können, und doch war es ihr liebstes Geschenk. Sie strich mit den Fingerspitzen über die zarten Blüten und spürte wieder Tränen aufsteigen.
Ärgerlich wollte sie sich zuerst dagegen wehren, sie verstand nicht, woher diese Backfisch-Allüren auf einmal kamen. Doch es sah sie ja niemand, und vielleicht konnte sie danach schlafen. Sie löschte das Licht und überliess sich ihrem Kummer.
Ein scharfer Knall hallte durch das Gebäude. Anna war sofort wach, machte das Licht an und warf sich hastig ihren Morgenrock über. Auf dem Gang scheuchte sie ein paar Mädchen, die verschlafen wissen wollten, was denn passiert sei, zurück in ihre Zimmer und eilte die Treppe hinunter.
Im Haus summte es leise wie in einem Bienenstock. Gäste mit leichtem Schlaf verlangten eine Erklärung, die Nachtportiers huschten durch die Gänge und murmelten etwas von jungen Herren, die sich einen Spass erlaubt hätten. Das hatte – so die Anweisung des Patrons – immer die Erklärung für nächtliche Störungen zu sein.
In Anna zog sich alles zusammen, sie hatte das Geräusch erkannt. Im ganzen Haus fiel ihr nur ein Gast ein, der verzweifelt genug für eine solche Tat sein mochte und wohl auch eine Ordonnanzwaffe besass. Sie lief zur Kleinen Suite, wo tatsächlich die Tür offen stand und von wo laute und aufgeregte Stimmen zu vernehmen waren – das war so weit gut, leise und gedämpfte Stimmen waren zu fürchten.
In der Suite traf sie auf einen verwirrt blickenden Nachtportier, den Patron,
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