Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
Vom Netzwerk:
Stunde oder so hinlegen.» Er reinigte die Theke, indem er zwei, drei Mal mit einem Geschirrtuch darüberschnippte. Sonst machte er das gewissenhafter.
    Anna beobachtete ihn schweigend. Dass Oberleutnant Ranke wusste, wo man Henning zu dieser Stunde finden konnte und dass er persönlich mit seiner Bitte hier aufgetaucht war, statt einen Pagen oder einen Portier damit zu beauftragen, bestätigte nur, was sie schon seit Längerem vermutet hatte.
    Henning machte sich daran, die Bar zu lüften. Schneidend kalte Luft drang in den Raum. Er wandte sich Anna zu. «Nun, hat Herr Bircher ein Einsehen gehabt?»
    Sie erzählte ihm nur das Nötigste, den Rest würde er noch früh genug erfahren.
    Er schloss die Fenster und meinte dabei kopfschüttelnd: «Hmm, das war wohl zu erwarten, aber trotzdem ist das eine sehr undurchsichtige Geschichte. Oberleutnant Ranke hat sich auch schon gewundert und wollte Genaueres von mir wissen. Er meinte, der Lieutenant hätte wohl Heiligabend mit etwas zu viel Whisky begangen. Was wohl Jost dazu sagen wird?»
    «Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Er wird ausser sich sein. Bestimmt wird er jetzt wieder von dem Feldbett anfangen.»
    «Vielleicht wollte Giovanni einfach ein bisschen Geld oder Wertsachen stehlen, bevor er das Haus verlassen muss. Er dachte wohl, der Lieutenant wäre ein einfaches Opfer.»
    Konnte die Erklärung wirklich so einfach sein? War der Einbrecher hinter den Besitztümern von Lieutenant Wyndham her gewesen, der nur durch Zufall die Kleine Suite bewohnte? Vielleicht gab es doch Zufälle? Es gab im Haus aber mehrere Gäste, bei denen sich ein Einbruch eher gelohnt hätte. Nein, je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war Anna, dass dies hier eine Fortsetzung der Episode vom Sommer war.
    Henning nahm seine Schürze ab und warf sie zusammen mit dem Geschirrtuch in den Wäschekorb unter der Bar. «Aber natürlich kann der Patron nicht zugeben, dass er einen Dieb eingestellt hat. Also gibt er einfach dem Lieutenant die Schuld. Der bleibt ja immer in seiner Suite, also braucht ihn das Gerede der anderen Gäste nicht weiter zu stören. Alles in allem eine ziemlich elegante Lösung.» Er unterdrückte ein Gähnen.
    Es hatte im Moment wohl keinen Sinn, ihm ihre Gedanken anzuvertrauen. «Giovanni ist wahrscheinlich schon über alle Berge», sagte Anna. «Ich kümmere mich besser um meine Arbeit. Vielleicht können wir uns später nochmals über diese Sache unterhalten?»
    «Natürlich, Stauffacherin. Aber jetzt sollten Sie wirklich auch einmal versuchen, ein bisschen Feiertagsstimmung aufkommen zu lassen. Sorgen können Sie sich später immer noch. Und dann helfe ich Ihnen dabei sogar, versprochen.» Und damit eilte er fröhlich aus der Bar.
    Anna fühlte sich trotz seiner Worte im Stich gelassen. Ärger stieg in ihr hoch, sie war wütend auf den Direktor, aber auch auf Henning, der sich auf den kommenden Tag so freute. Was hielt dieser Tag denn für sie bereit? Getuschel und verstohlen mitleidige oder hämische Blicke im Personal-Speisesaal. Sie blickte zu den ordentlich aufgereihten Reihen von Flaschen und Gläsern hinter der Bar. Zum ersten Mal empfand sie bei dem Anblick der im Spiegel verdoppelten, glitzernden Ordnung keine Freude; liebend gerne hätte sie einen Stuhl hineingeschmettert.

Der Lockvogel
    «Lasst’s euch, o Diplomaten, recht angelegen sein, und eure Potentaten beratet rein und fein! Geheimer Chiffern Sendung beschäftige die Welt, bis endlich jede Wendung sich selbst in’s Gleiche stellt!»
    West-östlicher Divan – Johann Wolfgang von Goethe, 1819
    Anna tat so, als würde sie das leise Kichern und die verstohlenen Blicke im Speisesaal nicht bemerken. Aber es war nicht einfach, sogar Herr Ganz schien in ihrer Gegenwart peinlich berührt.
    Sie brachte es nicht über sich, den Früchtekorb für die Kleine Suite persönlich in der Küche zu ordern, und schickte stattdessen einen Pagen mit schriftlichen Anweisungen. Wohin auch immer sie bei ihrer Arbeit ging, eine Mischung aus Schadenfreude und Mitleid begleitete sie.
    Schliesslich hielt sie es nicht mehr aus, sie musste aus dem Haus, oder sie würde irgendetwas Unbedachtes tun. Sie liess das Mittagessen aus und flüchtete stattdessen in den Park. Es war dem Personal nicht verboten, sich dort aufzuhalten, solange die Gäste sich nicht belästigt fühlten, aber während Sonn- und Feiertagen sah es der Patron nicht gern. Doch seine Wünsche waren Anna im Moment herzlich egal. Sie ging zu der kleinen

Weitere Kostenlose Bücher