Chiffren im Schnee
Sommer, ihren Zweifeln und der ablehnenden Haltung des Patrons berichtete.
Als sie zu den Neuigkeiten kam, die Henning aus Frankreich mitgebracht hatte, meinte der Lieutenant ausdruckslos: «Der Professor und seine Frau sind also tot.»
Anna nickte. «Ich mag es kaum glauben, dass die Frau Professor ihren Mann getötet haben soll. Sie liebte ihn sehr, und sie war in Sorge um ihn, daran kann ich mich noch gut erinnern. Ich verstehe auch nicht, warum sie frühzeitig abreisten. Es hat ihnen hier sonst immer so gut gefallen.»
«Sie sind direkt an die Riviera aufgebrochen?»
Anna prüfte die Chronologie in ihrem Notizbuch. «Sie sind hier am 15. abgereist, eine Woche früher als geplant. Das exakte Datum ihrer Ankunft in Nizza weiß ich nicht, aber ich glaube nicht, dass sie irgendwo einen Zwischenhalt gemacht haben oder in der kurzen Zeit gar nochmals nach Wien zurückgekehrt sind.»
«Was war das offizielle Verdikt der französischen Untersuchungsbehörden?»
«Mord und Selbstmord.»
«Und der Barkeeper ist sich sicher, dass die Tigerbrigaden den Fall untersucht haben?»
«Zumindest wurde ihm das so berichtet.»
Der Lieutenant nickte und bedeutete ihr fortzufahren. Es gab nicht mehr viel zu erzählen, nur, wie sie sich von Henning hatte überzeugen lassen, dass der Spuk nun vorbei sei. «Ich hoffte, dass er recht hatte.»
«Aber?» Er betrachtete sie aufmerksam.
Sie wunderte sich, woher er wusste, dass es ein «Aber» gab. «Da war dieses seltsame Gefühl. Ich habe es für ein Hirngespinst gehalten, zumindest bis heute Morgen.»
«Und deshalb machte Sie der vergessene Kuchen so misstrauisch?»
«Ein Etagenkellner darf nie etwas zurücklassen. Warum also gerade an diesem Abend? Das war zu viel Zufall.»
Falls ihm auffiel, dass sie seine Maxime übernommen hatte, liess er es sich nicht anmerken. Sie erzählte von dem bitteren Geschmack des Kuchens und Hennings Schlussfolgerungen, von Giovanni, seiner Laufbahn im Zirkus und seinem wenig beeindruckenden Ruf als Zuckerbäcker. Von ihrem Gespräch mit Direktor Bircher gab sie nur eine gekürzte Fassung wieder. «Wie im Sommer will der Herr Patron mir nicht glauben. Es ist für ihn wichtig, jeglichen Skandal zu vermeiden», beendete sie ihre Erzählung. Der Lieutenant musste nicht wissen, was sonst noch gesagt worden war.
Er hatte Anna nie unterbrochen, nie angedeutet, sie sei ein überspanntes Frauenzimmer mit zu viel Vorstellungskraft. Gerade das machte sie unsicher; auf einmal fragte sie sich, was sie hier tat. Sie war dabei, ihren Ruf und ihre Stellung aus dem Fenster zu werfen.
«Das war es also!», sagte er da zu ihrer Überraschung. Er hielt einen Moment inne, so als würde er stumme Zwiesprache mit sich selbst halten, dann fuhr er fort: «Der Herr Direktor war heute Vormittag hier, um seine Weihnachtsgrüsse zu überbringen. Dabei teilte er mir mit, dass die Sache erledigt sei. Man habe Verständnis für meine schwierige Lage. Er war sehr diplomatisch, aber ich nehme an, er hat sich mit Herrn Doktor Reber unterhalten.»
Anna machte keine Anstalten, die Situation zu beschönigen. «Ja, es tut mir leid. Der Herr Direktor ist gewillt, den Vorfall dem Morphium zuzuschreiben. Ich habe nichts dazu gesagt.»
Sie hatte dem Direktor nicht widersprochen, weil sie damit einen Vertrauensbruch begangen hätte. Der Lieutenant hatte nicht gewollt, dass sein Kampf gegen das Morphium im Hotel bekannt wurde. Das Gerücht, das der Direktor nun in Umlauf brachte, war allerdings schlimmer als die Wahrheit. Sie warf dem Lieutenant einen unsicheren Blick zu.
Er schüttelte den Kopf. «Das hätte nichts geholfen. Jemand, der sich vom Morphium entwöhnt, kann auch halluzinieren. So oder so, der Direktor hätte seine Erklärung gehabt. Aber das war es nicht, was ich meinte. Der Herr Direktor hatte noch ein weiteres Anliegen. Er legte mir ans Herz, Ihnen kein Gehör zu schenken, sollten Sie das Gespräch mit mir suchen. Er liess mich auch wissen, dass Sie Weisung hätten, mich nicht zu behelligen.»
Anna spürte, wie sie rot wurde. «Es tut mir leid», murmelte sie. «Es war sehr grosszügig von Ihnen, mir dennoch zuzuhören.»
«Ich glaube wirklich nicht, dass Sie sich zu entschuldigen brauchen. Ich erspare uns beiden, was er sonst noch zu sagen hatte.»
Sein distanzierter Ton half ihr über ihre Verlegenheit hinweg, und sie war ihm dafür dankbar. Trotzdem hielt sie ihren Blick starr auf das Notizbuch gerichtet.
«Es ist gut, dass Sie gekommen sind. Was Sie zu
Weitere Kostenlose Bücher