Chiffren im Schnee
Lichtung und setzte sich auf die Parkbank.
Sie musste sie selbst sein, bevor sie wusste, was sie tun sollte. Nicht die Gouvernante, die den Ruf des Hauses über alles stellte; nicht die junge Frau auf dem Weg zum alten Mädchen, die verqueren Hirngespinsten nachjagte, weil ihrem Leben etwas fehlte; nicht das Objekt von Spott und Mitleid – nur sie selbst. Es galt, die Zerrbilder zu verjagen, die sie quälten: die verlogene Gouvernante, die dabei half, den Skandal im Leben einer jungen Braut ohne Aufheben verschwinden zu lassen und keine Spur von Herz dabei zeigte. Die prüde Gouvernante, die sich höchstens an einem Feiertag aus Jux dazu überreden liess, einem Mann einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Die beschämte Gouvernante, die sich wie ein Backfisch in einen Gast vergafft hatte und dafür vom Patron abgekanzelt wurde.
Sie holte ihr Notizbuch hervor, suchte jene Seiten, die nie jemand sehen sollte, und versank in den Zeilen, bis jene Zerrbilder ihrer selbst sich zwischen ihren eigenen Worten verflüchtigten. Sie hatten keine Macht, solange sie ihnen nicht nachgab. Solange sie nicht vergass, wer sie sein wollte und wer sie sein konnte.
Die mittägliche Ruhe im Park wurde auf einmal durch heftiges Zetern gestört. Anna blickte hoch, über ihr klammerte sich ein Eichhörnchen an der Spitze eines tief hängenden Astes fest und zankte sie aus. Der buschige Schwanz zitterte empört über den spitzen Ohren, während der kleine Kerl dermassen schimpfte, dass der ganze Ast schwankte. Sie störte sein Revier, und schlimmer noch, sie hatte nicht einmal Futter mitgebracht.
Anna lachte. Auf einmal war es gar nicht mehr so schwer zu erkennen, was zu tun war. Es war offensichtlich – und wie so oft gerade deshalb nur schwer zu erkennen gewesen. Sie klappte das Notizbuch zu und kehrte ins Splendid zurück.
Der Lieutenant war am Schreiben, vor sich eines seiner japanischen Bücher. Schatten lagen unter seinen Augen, was angesichts der letzten Nacht nicht weiter verwunderlich war. Auf dem Esstisch bemerkte Anna einen Früchtekorb, dekoriert mit einer rot-weiss-schwarzen Schleife. Sie zuckte innerlich zusammen, Flaggenkunde war nicht die Stärke des Küchenpersonals.
Sie wünschte dem Lieutenant frohe Weihnachten und hielt ein Metermass hoch, das sie als Vorwand mitgebracht hatte, falls sie jemand nach dem Grund ihres Besuchs fragen sollte. «Ich bin gekommen, um die Reparatur der Wand zu besprechen.»
Er betrachtete sie mit seltsam abwartendem Blick und sagte dann: «Natürlich werde ich für den Schaden vollumfänglich aufkommen.»
Anna drehte das Metermass verlegen in den Händen. Die herrische Hofdame schien sie mit einer beunruhigenden Mischung aus Ungeduld und Selbstbewusstsein zu mustern.
«Ich glaube Ihnen», meinte sie schliesslich schlicht. «Jemand war heute frühmorgens hier und hat die Räume durchsucht.»
Er legte ein Blatt in das Buch, dann setzte er sich vorsichtig in den Lesesessel. «Ich gehe davon aus, dass Sie mir dies nicht nur aus Höflichkeit sagen, sondern für diese erstaunliche Aussage auch gute Gründe haben. Erfahre ich nun, warum ein vergessenes Stück Kuchen Sie dermassen beschäftigt hat?»
Anna musste sich von dieser unvermittelten Frage erst einmal etwas erholen. Sie legte das Metermass zur Seite und holte ihr Notizbuch hervor. «Zu dem Kuchen komme ich noch, wenn Sie mir bitte etwas Ihrer Zeit schenken wollen.»
Er bedeutete ihr mit einer Handbewegung fortzufahren. Es war ihm nicht anzumerken, ob er amüsiert oder verärgert war.
Anna öffnete ihr Notizbuch. «Verzeihen Sie, wenn ich etwas umständlich beginne, aber es ist wichtig, dass Sie diese Geschichte von Anfang an hören. Im Juni dieses Jahres weilte ein Herr Professor Hatvany aus Wien mit seiner Gattin in dieser Suite.»
«Professor Janos Hatvany, der Sprachwissenschaftler?» Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wirkte er überrascht.
«Ja, ich habe versucht, etwas mehr über ihn herauszufinden. Der Professor hat sich mit Geheimschriften und solchen Dingen befasst. Ich glaube, das ist wichtig.»
Er sagte leise etwas, das Anna nicht verstehen konnte, und starrte dabei zu Boden. Er schien sie vergessen zu haben. Sie wartete unsicher, schliesslich blickte er hoch. «Verzeihung, bitte setzen Sie sich und fahren Sie fort.»
Er musste die Aufforderung wiederholen, bis Anna sich zögernd in den Fauteuil setzte. Sie war froh um ihre Notizen, so musste sie ihn nicht ansehen, während sie von der Zerstörung der Suite im
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