Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
Vom Netzwerk:
helfen zu können. Der Preis, den er schliesslich zahlen musste, war mir damals egal.»
    «Das muss sehr schlimm gewesen sein.» Anna wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
    Lady Georgiana stand auf und legte ihr eine Hand leicht auf den Arm. «Ach, schon gut. Ich weiss wirklich nicht, warum ich Ihnen das erzähle. Es scheint in der Familie zu liegen, Ihnen unsere Bürden aufzuhalsen. Ein schlechter Charakterzug – ich entschuldige mich dafür.»
    Sie trat vor den Ankleidespiegel und machte sich daran, die Perlen in ihren Ohrläppchen gegen tropfenförmige Smaragde auszutauschen. «Ich sollte besser versuchen, irgendetwas Nützliches herauszufinden. Da die Damen nicht mit mir sprechen wollen, werde ich mich heute nochmals skandalös benehmen und die Bar sogar abends aufsuchen. Paget – wo ist mein Zigarettenhalter?»
    Anna betrachtete Lady Georgiana im Spiegel, wie sie so dastand in einem grünen Samtkleid mit goldbedruckten Seidenpaneelen, den schimmernden Smaragden und einem Gesicht, das alle Blicke auf sich zog, den Kopf immer leicht erhoben, sodass sie noch grösser erschien. Und Anna sah sich selbst hinter Lady Georgiana stehen, in ihrer zweitbesten Bluse mit dem Stehkragen, eine Reihe von Biesen über der Brust und eine winzige Picot-Spitze an Kragen und Manschetten. Der Anblick war eine mehr als machtvolle Mahnung, sich nicht zum Narren zu machen.
    Als Anna am Abend spät endlich in ihre Kammer kam, öffnete sie das Fenster. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte es zu schneien begonnen, grosse Flocken wirbelten im spärlichen Licht der Lampe durch die Dunkelheit. Sie nahm die Mappe zur Hand und strich über das marmorierte Papier, ein kalter Windstoss wirbelte ein paar Flocken in die Kammer. Sie schloss das Fenster und legte die Mappe auf ihr Büchergestell. Sie würde sie am Morgen mit ein paar belanglosen Dankesworten zurückgeben.

Unaussprechliches
    «Die Beweggründe zum Selbstmord sind vielfach unsittlicher Art. Sehr viele Selbstmorde sind insofern schon lange vorbereitet, als das ganze Vorleben mit ihnen einen Abschluss findet. Insbesondere sind es geschlechtliche Unsittlichkeit und Trunksucht, die oft zu einem gewaltsamen Lebensende führen. (…) Dazu kommt der Einfluss von körperlichen und Geisteskrankheiten, die übermächtig auf den Menschen einwirken und ihn zur Selbsttötung veranlassen.»
    Meyers Konversationslexikon – 1905
    Es hatte die ganze Nacht über geschneit, und auch am Morgen liess es nicht nach, die Flocken fielen in einem schweren Vorhang zur Erde, der alles Licht verschluckte.
    Anna erwachte mit Kopfschmerzen und brachte beim Morgenessen kaum einen Bissen herunter. Hauptgesprächsthema bei Tisch war die Geburtstagsfeier eines der Herren Offiziere, die in der Bar bis in die frühen Morgenstunden angedauert hatte. Anna hätte gerne nochmals mit Henning gesprochen, doch nun war wohl kaum damit zu rechnen, dass sie ihn vor dem späten Nachmittag zu sehen bekam.
    Nach dem Morgenessen musste sie sich um Edith kümmern, die unbedingt in eine andere Kammer wollte, weil es angeblich im Dachstuhl über ihrem Bett spuken würde. Frau Göweils Geschichten begannen bereits Früchte zu tragen.
    Annas Kopfschmerzen wollten nicht nachlassen. Auf dem Weg zu Lady Georgiana blieb sie auf der Treppe kurz stehen, schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Sie schreckte hoch; Herr Ganz stand mit einem Mal neben ihr, er hatte sie etwas gefragt.
    «Ich wollte wissen, ob Sie Jost heute schon gesehen haben», wiederholte er. «Er war nicht beim Frühstück.»
    «Nein, er ist mir noch nicht begegnet.» Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Das war bestimmt dumm, Jost hatte wohl nur verschlafen.
    Herr Ganz machte sich mit grimmiger Miene auf nach oben.
    «Ich habe den Etagenkellner angewiesen, Lieutenant Wyndham sein Frühstück zu bringen und ihm zu sagen, dass Jost unpässlich sei. Eine weitere Predigt von Lady Georgiana Darby über die Zustände in diesem Haus möchte ich mir lieber ersparen.»
    Anna begleitete ihn in den Ostflügel. Herr Ganz erzählte ihr, dass Josts Zimmergenosse, ein junger Portier namens Karl, behauptete, Jost würde mit Zahnschmerzen im Bett liegen.
    «Davon will ich mich nun selbst überzeugen», brummte Herr Ganz und öffnete die Tür zur Kammer. Beide Betten waren leer und ordentlich gemacht. Er trat näher und steckte seine Hand zuerst unter die eine und dann die andere Decke.
    «Hier hat diese Nacht niemand geschlafen.» Er zeigte auf das Bett zu seiner Rechten.

Weitere Kostenlose Bücher