Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
Vom Netzwerk:
stehen und rannte fast zur Kleinen Suite. Sie klopfte und trat ohne auf eine Antwort zu warten ein. Lady Georgiana hatte auf dem Sofa gedöst und rieb sich verschlafen die Augen. Der Lieutenant war mit Schreiben beschäftigt, er wandte sich, den Stift immer noch in der Hand, Anna zu.
    Anna schenkte sich die Höflichkeiten. «Eines der Mädchen hat heute Morgen geklagt, dass es im Haus spuke. Sie hätte in der Nacht Schritte und Stimmen auf dem Dachboden gehört. Ich dachte, sie hätte sich von Frau Göweils Geschichten über Geister und Zeichen aus dem Jenseits anstecken lassen.»
    Lady Georgiana setzte sich auf und blickte beunruhigt von Anna zu ihrem Cousin. Der Lieutenant legte das Schreibzeug weg. «Ist der Dachboden abgeschlossen?»
    «Nein, es müssen ständig Sachen hinaufgebracht oder heruntergeholt werden. Die Tür hat nur oben einen Riegel, damit sich keine Kinder hinaufschleichen können.»
     «Dann müssen wir jetzt dort nachsehen.»
    Lady Georgiana meinte stirnrunzelnd: «Du vergisst, dass wir beide gar nichts von Ammanns Verschwinden wissen dürften. Wie willst du Herrn Bircher eine plötzliche Expedition auf den Dachboden erklären?»
    «Die Gefühle des Direktors sind im Moment nicht von Belang. Aber falls wir eine Erklärung brauchen – ich bin Offizier und bemerke es, wenn man mir Lügen auftischt. Also habe ich von Miss Staufer die Wahrheit übers Ammanns Ausbleiben verlangt. Und nun werde ich mich selbst darum kümmern, einen nachlässigen Untergebenen zu suchen und gegebenenfalls zu massregeln.»
    Er griff nach seinem Spazierstock, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach oben. Der Liftboy blickte zwar etwas erstaunt, aber die Ausbildung von Herrn Ganz zeitigte Erfolg. Er zuckte mit keiner Wimper, als Lieutenant Wyndham verlangte, bis ganz nach oben in den Dienstbotentrakt gebracht zu werden.
    Während der Lift leise sirrend nach oben stieg, musterte Christian verstohlen Miss Staufer. Sie sah besorgt und nervös aus. Mit einem sanften Ruck hielt der Lift und sie sagte: «Gleich beginnt das Mittagessen für das Hauspersonal. Das Servier- und Küchenpersonal hat bereits gegessen und ist mit den Vorbereitungen für das Mittagessen der Gäste beschäftigt. Es werden nicht viele Leute hier oben sein.»
    In diesem Stock hatte das Splendid seinen Schmuck abgelegt. Der Gang war niedrig, und das spärliche Licht kam von einfachen Milchglas-Lampen. Ein grobfaseriger Kokosläufer lag auf dem Boden.
    Gleich neben dem Lift befand sich eine schlichte Tür. Miss Staufer löste den Riegel, der auf Augenhöhe angebracht war und öffnete die Tür. Sie drehte den Schalter neben dem Türrahmen, und spärliches Licht fiel auf eine kurze, steile Treppe, die nach oben führte.
    Christian legte ihr seine Hand auf die Schulter. «Ich gehe besser voran. Georgiana, du bleibst bei Miss Staufer.»
    Er hoffte, das würde ausreichen, sie beide davon abzuhalten, ihm zu folgen. Miss Staufer rief hinter ihm her: «Es gibt oben noch mehr Lichtschalter.»
    Christian brauchte nicht mehr Licht. Er blickte nach oben. Über ihm wölbte sich die Kuppel des Splendid, und zu beiden Seiten erstreckte sich in der Dunkelheit der Dachstuhl. Rechts neben dem Treppenaufgang schwebte im schwachen Dämmerlicht ein gespenstischer Schatten über dem Dachboden. Als sich Christians Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, sah er auch den Strick, der über einen der gewaltigen Dachbalken geworfen und an einem schräg angesetzten Stützbalken verankert worden war.
    Er erklomm mühsam die letzten Stufen und verschaffte sich die traurige Gewissheit; es war Ammann. Christian griff nach einer schlaffen Hand und fand keinen Puls. Aber er sah aufgeschrammte Knöchel. Dann blickte er um sich und versuchte zu erfassen, was hier geschehen war.
    «Christian, hast du ihn gefunden?», erklang Georgianas Stimme ängstlich von unten.
    Er wusste, es hatte keinen Sinn, sie zu bitten, nicht heraufzukommen. Trotzdem sagte er: «Ja. Bitte bleib bei Miss Staufer.»
    Schon konnte er ihre Schritte auf der Treppe hören, und dann ein unterdrücktes Geräusch. Er wandte sich um und sah, wie Georgiana versuchte, Miss Staufer die Sicht zu versperren. Doch sie kam zu spät. Die Gouvernante erstarrte nur für einen kurzen Augenblick, dann stieg sie langsam die letzten Stufen hoch, schob zuerst Georgiana und dann Christian zur Seite und blieb schließlich einfach vor dem Toten stehen. Auf einmal reckte sie sich, hob ihre Rechte und legte sie auf Ammanns Brust.

Weitere Kostenlose Bücher