Chiffren im Schnee
«Unerhört! Karl wollte ihn wohl decken, während er wie ein Kater von Gott weiss woher nach Hause schleicht. So geht das nun wirklich nicht.»
Sein Ton verhiess weder für Jost noch für Karl Gutes. Er eilte davon, um sich des Problems anzunehmen. Anna folgte ihm nach unten, während ihr beunruhigende Gedanken durch den Kopf gingen. Jost war in letzter Zeit so in seiner Aufgabe aufgegangen, dass dieses plötzliche Ausbleiben ihr unheimlich war. Anna konnte sich nicht vorstellen, dass er sich einer der Ausschweifungen hingegeben hatte, welche junge Männer normalerweise davon abhielten, in ihrem eigenen Bett zu schlafen.
Lady Georgiana hatte ausgerechnet an diesem Morgen beschlossen, zur Frühaufsteherin zu werden. Paget teilte Anna mit, dass Mylady Frühstück aufs Zimmer geordert habe und bereits bei ihrem Cousin weilte.
Eigentlich war es noch zu früh, um in der Kleinen Suite für die angebliche Zimmerinspektion zu erscheinen. Anna machte sich trotzdem auf den Weg dorthin. In der Kleinen Suite leistete Lady Georgiana ihrem Cousin beim Frühstück Gesellschaft. Sie war eben dabei, ihm den Kaffee wegzutrinken.
«Miss Staufer! Was bringt Sie zu so früher Stunde hierher?» Lady Georgiana unterdrückte ein heftiges Gähnen. «Verzeihung. Ich war noch gar nicht zu Bett; als ich endlich aus der Bar kam, lohnte sich das nicht mehr. Wer hätte gedacht, dass diese Deutschen so feiern können! Oberleutnant Ranke hatte Geburtstag, und aus der ‹kleinen Feier› in der Bar wurde ein richtiges Gelage!»
Der Lieutenant, der Anna beim Eintreten genau gemustert hatte, legte eine Hand auf Lady Georgianas Arm. «Ich glaube, Miss Staufer hat Neuigkeiten.»
Vielleicht gab es für Josts Ausbleiben ja doch eine ganz harmlose Erklärung, und Anna war gerade dabei, sich lächerlich zu machen. Sie vertraute trotzdem ihrem Gefühl. «Es geht um Jost. Er ist nicht unpässlich, wie man Ihnen gesagt hat; er ist verschwunden. Er war nicht in seinem Bett, und niemand hat ihn seit gestern Abend gesehen.»
«Es mag – wie soll ich sagen – harmlose Gründe für sein Wegbleiben geben», meinte Lady Georgiana taktvoll. «Er wirkte recht fröhlich auf mich, fast ein bisschen verliebt.»
Lieutenant Wyndham warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Anscheinend hatte er wie Anna Josts gute Laune seiner Cousine zugeschrieben. Er fragte Anna: «Kann es sein, dass Ammann in einem Wirtshaus in schlechte Gesellschaft geraten ist?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das glaube ich nicht. Jost ist wie sein Vater Anhänger der Abstinenzlerbewegung, er hat noch nie einen Tropfen Alkohol angerührt. Und was andere, harmlose Gründe betrifft», sie spürte, wie sie errötete, «das kann ich mir auch nicht vorstellen. Selbst wenn er ein Mädchen im Dorf hätte, er würde deshalb seine Arbeit nicht vernachlässigen.»
Lieutenant Wyndham stand langsam auf und trat an die Balkontür. Der Schnee fiel immer noch unablässig. «Das gefällt mir nicht. Es mag wohl eine ganz und gar unverfängliche Erklärung für sein Verschwinden geben, und er taucht demnächst wieder auf.» Er drehte sich um. «Aber wenn Ammann bis Mittag nicht da ist, müssen wir ihn suchen. Lady Georgiana und ich werden Ihnen dabei helfen. Ich will nicht, dass Sie alleine durch Keller, Vorratsräume und Abstellkammern streifen.»
«Dann hättest du ihr vielleicht besser nicht gesagt, wo sie suchen soll», meinte Lady Georgiana.
Er blickte beunruhigt zu Anna. «Versprechen Sie mir, Ammann nicht alleine suchen zu gehen, Miss Staufer.»
Es blieb ihr nicht viel anderes übrig, als seiner Bitte nachzukommen. Sie verliess die Kleine Suite keineswegs beruhigt, wie sie gehofft hatte. Es wäre ihr lieber gewesen, ausgelacht zu werden. Sie ging nach unten, in der Hoffnung, Jost sei inzwischen aufgetaucht. Doch der Gesichtsausdruck, mit dem Herr Ganz sie begrüsste, sprach Bände.
«Keine Spur von ihm, und von den anderen will niemand etwas gewusst haben. Der Patron ist ausser sich.»
Das konnte Anna dem Direktor nicht verdenken. Sie ging ihrer morgendlichen Arbeit nach und versuchte, nicht zu sehr an Lieutenant Wyndhams düstere Andeutungen von Kellern und Abstellräumen zu denken. Ihre Kopfschmerzen wurden schlimmer, und da war der nagende Gedanke, dass sie irgendetwas übersah.
Sie war gerade dabei, ein nach der Abreise eines Gastes frisch gereinigtes Zimmer zu kontrollieren, als die Erinnerung sie wie ein Schlag traf. Sie liess das ängstlich auf ihr Urteil wartende Zimmermädchen einfach
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