Chiffren im Schnee
mit Ammann zurück.
Anna geleitete Lady Georgiana auf ihr Zimmer und überliess sie der Obhut Pagets. Sie ging nach unten in den Personal-Speisesaal und bat Herrn Ganz nach draussen, wo sie ihm ihre Entdeckung mitteilte. Während sie ihre Worte sorgsam wählte, schien der Lärm aus der Hotelküche nebenan immer leiser zu werden.
Er starrte sie an. «Sind Sie auch ganz sicher?»
«Ja, leider. Glauben Sie mir, Herr Ganz, da ist nichts mehr zu machen.»
Küchengehilfen und Köche hasteten vorbei. Manche gaben kurze Geräusche des Missfallens von sich, weil der Concierge und die Gouvernante es wirklich besser wissen sollten, als zur Mittagszeit hier den Betrieb aufzuhalten.
«Oh mein Gott!» Herr Ganz setzte sich auf einen Stapel leerer Gemüsekisten. Er strich sich mit der Hand über die kahle Stelle auf seinem Kopf und wiederholte immer wieder: «Oh mein Gott!»
Er konnte dieses Mal nicht mit derselben ruhigen Gefasstheit vorgehen, die er sonst bei Todesfällen an den Tag legte. Dieses Mal war es kein Gast, nicht nur ein Gesicht mit einem Namen, über das man sonst nichts wusste. Dieses Mal hatte es jemanden getroffen, dessen Leben und Lachen sie alle kannten. Doch schliesslich fasste er sich und stand mit einem Ruck auf. «Der Patron muss informiert werden.»
Als Anna ihn begleiten wollte, schüttelte er den Kopf.
«Sie haben ihn gefunden, das muss schlimm genug gewesen sein. Lassen Sie mich das jetzt übernehmen. Ruhen Sie sich etwas aus, wenn Sie können. Ich fürchte, sobald die Nachricht die Runde macht, werden Sie wieder alle Hände voll zu tun haben.»
Da Anna es beim besten Willen nicht über sich brachte, etwas zu essen, ging sie in ihre Kammer, setzte sich hin und wartete einfach. Sie hörte Stimmen und Schritte im Gang und dann auf dem Dachboden, zuerst nur vereinzelt, dann immer mehr und immer lauter, und dann wurde es wieder still.
Irgendwann wurde Anna ins Direktions-Bureau gerufen, wo Herr Bircher, Herr Ganz, Lieutenant Wyndham, Herr Doktor Reber und Wachtmeister Wirz versammelt waren. Für das Protokoll musste sie nochmals alles erzählen. Sie hielt sich an die besprochene Version, ohne den Lieutenant auch nur einmal anzusehen.
Als Anna geendet hatte, sah der Direktor wütend aus. Ein Toter kurz vor dem grossen Neujahrsball! Und da er sonst niemanden hatte, dem er die Schuld geben konnte, blaffte er seine Gouvernante an: «Warum haben Sie nicht gleich nachgeschaut, als Edith sagte, dass sie etwas auf dem Dachboden gehört hatte? Vielleicht hätten wir ihn dann noch rechtzeitig gefunden!»
«Nein, das hätten Sie nicht», warf Doktor Reber ein, bevor Anna etwas sagen konnte. «Der arme Junge war bereits seit letzter Nacht tot, das kann ich anhand des rigor mortis sagen. Aber was mir zu denken gibt, ist, dass das Mädchen mehrere Stimmen gehört haben will. Wenn der Junge nicht allein war, sollte man der Sache aber schon genauer nachgehen, Herr Bircher.»
«Er war doch betrunken – er hat wahrscheinlich mit sich selbst geredet. Im Übrigen», fügte der Patron hinzu, «gab es ja wohl absolut keine Spuren, dass sonst noch jemand dort oben war, nicht wahr, Herr Wachtmeister?»
Der Wachtmeister, an verschwundene Hühner und ab und zu eine Wirtshausprügelei gewöhnt, blickte verschreckt hoch. «Nein, Herr Direktor. Ich bin ganz Ihrer Meinung, dass der Junge wohl selbst Hand an sich gelegt hat. Gott sei seiner armen Seele gnädig!»
Der Doktor sah nicht unbedingt überzeugt aus. Er warf Lieutenant Wyndham einen fragenden Blick zu.
Der meinte nachdenklich: «Es würde sich aber doch lohnen, Erkundigungen einzuholen, mit wem Ammann sich geprügelt hat und ob es Zeugen für seinen Gemütszustand gestern Abend gibt.»
Wachtmeister Wirz kritzelte langsam in sein abgegriffenes Notizheft. «Ich werde mich darum kümmern, aber ich glaube nicht, dass dabei viel herauskommt. Inzwischen wird sich schon herumgesprochen haben, was passiert ist. Und falls der junge Ammann mit ein paar Nachtbuben aneinandergeraten ist, werden die Burschen sich hüten, jetzt etwas zu sagen. Mit einem Selbstmord will niemand etwas zu tun haben.»
Auf diese Bemerkung folgte ein beredtes Schweigen. Schliesslich räusperte sich Herr Bircher. «Nun, ich hoffe, der Untersuchungsrichter hat ein Einsehen. Jetzt mitten in der Saison ist niemandem geholfen, wenn er daraus eine grosse Sache macht. Herr Wachtmeister, kümmern Sie sich bitte um alles und lassen Sie mich wissen, wann der Richter eintrifft. Er ist selbstverständlich im
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