Chiffren im Schnee
Splendid eingeladen.»
«Sehr wohl, Herr Bircher.» Der Wachtmeister packte seine Unterlagen zusammen, erhob sich mit einem Ächzen und verabschiedete sich von den Anwesenden.
Als er aus der Tür war, wandte der Patron sich Doktor Reber zu: «Dann danke ich Ihnen für Ihre Hilfe, Herr Doktor. Vielleicht können Sie noch bei Lady Georgiana Darby vorbeisehen. Die arme Dame muss von dem Anblick sehr erschüttert sein und bedarf vielleicht medizinischer Hilfe.»
Anna entliess er mit einem ungnädigen Nicken. Von ihr und Herrn Ganz wurde nun erwartet, dafür zu sorgen, dass die Gäste nicht unnötig behelligt wurden.
Herr Ganz hatte es übernommen, dem Personal die traurige Nachricht mitzuteilen. Josts Leiche war über eine der Hintertreppen aus dem Haus geschafft worden. Nun mussten alle dafür Sorge tragen, dass der Hotelbetrieb reibungslos weiterging. Anna nahm sich die Zeit, mit jedem Zimmer- und Stubenmädchen zu reden. Zur Trauer kam auch noch Kummer über das angebliche Verbrechen wider Gott und die Natur, das Jost begangen haben sollte. Man erwartete von Anna angemessene Worte des Trostes, und sie wiederholte die leeren, nur allzu bekannten Floskeln.
Danach harrte eine weitere Aufgabe: Josts Habseligkeiten mussten zusammengeräumt und seinem Vater zugeschickt werden. Anna betrat die kleine Kammer, holte Josts alten, abgegriffenen Koffer unter dem Bett hervor und begann, die wenigen Kleidungsstücke aus dem Wandschrank zusammenzufalten. Als sie die Schublade des Nachttischs öffnete, fand sie darin eine silbern gerahmte Fotografie – Vater und Sohn Ammann bei der Rast auf einem Berggipfel. Das Bild zeigte Jost im Übergang vom Knaben zum Mann, jenem schlaksigen Alter, in dem Hände und Füsse schneller zu wachsen schienen als der Rest. Sie betrachtete sein stolzes Grinsen und den ruhigen, bedächtigen Blick des Vaters. Tränen stiegen ihr in die Augen.
«Stauffacherin!» Henning stand in der Zimmertür. «Oh – Stauffacherin, hat man Ihnen das auch noch aufgehalst!»
Er eilte an ihre Seite und nahm sie in die Arme. «Schon gut, schon gut», murmelte er begütigend in ihr Haar.
Sie hatte die Fotografie auf das Bett fallen lassen und hielt sich an ihm fest. Für einen Moment genoss sie das ungewohnte Gefühl, dass da jemand war, der sich einfach um sie kümmerte. Doch dann schämte sie sich für ihre Schwäche. «Es tut mir leid», meinte sie leise und liess ihn los.
«Das muss Ihnen nicht leidtun. Ich bin eben erst aufgewacht und habe alles gehört. Wie furchtbar. Wenn ich mir vorstelle, wie fröhlich es gestern in der Bar zu- und herging, während Jost hier oben so verzweifelt war.» Er fragte bedrückt: «Wieso nur hat er das getan?»
«Ich weiss es nicht», sagte Anna tonlos. Ihre Kopfschmerzen, die etwas nachgelassen hatten, waren durch das Weinen wieder zurückgekehrt. Sie legte die Fotografie in den Koffer und blickte in der Kammer um sich.
Auf der Waschkommode stand eine kleine Geschenkschachtel. Anna hob den Deckel an, zwischen Seidenpapier lagen ein paar gut gearbeitete Lederhandschuhe und ein Beutel Tabak. Henning trat hinzu und griff nach der Weihnachtskarte, die im Spiegelrahmen steckte. «Das Boxing-Day-Geschenk von Lieutenant Wyndham. Der Tabak ist für Vater Ammann.»
Schweigend machten sie sich gemeinsam daran, die Waschkommode auszuräumen. Als sie fertig waren und Anna den Koffer nehmen wollte, sagte Henning leise: «Lassen Sie’s gut sein. Darum kümmere ich mich schon.» Er nahm ihr den Koffer ab und verliess damit die Kammer.
Anna öffnete das kleine Fenster und liess frische Luft herein. Hennings Worte hatten neue beunruhigende Gedanken ausgelöst. Was, wenn Josts Tod irgendwie mit den Offizieren zu tun hatte? Was, wenn er durch ihr Schweigen umgekommen war? Was sollte sie nur tun? Entschlossen wehrte sie sich gegen neue Tränen, es war sinnlos, vor dieser Frage davonlaufen zu wollen.
Sie holte sich vom Dach eine Handvoll Schnee, die sie sich auf das Gesicht presste. Die scharfe, kühle Nässe half ihr, ruhig zu werden und ihre Gedanken zu ordnen.
Sie musste mit Lady Georgiana sprechen. Von Paget erfuhr sie, dass es Mylady inzwischen wieder besser ging und sie bei ihrem Cousin war.
Lady Georgiana war alleine im Lesezimmer, sie sah blass und verweint aus. «Christian geht es gar nicht gut. Haben Sie es dabei?»
Anna brauchte nicht zu fragen, was Lady Georgiana meinte. Sie nickte und blickte dann zur geschlossenen Schlafzimmertür. Lady Georgiana schüttelte den Kopf und
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