Chiffren im Schnee
Sie.»
Sie trat an das Fenster neben dem Sofa. Geduldig wartete er darauf, dass sie die so sorgfältig gehütete Maske endlich senkte. Es war ein langer Kampf, den er schweigend beobachtete – und sich des Ausgangs keinesfalls sicher war. Schliesslich sanken ihre Schultern nach vorn, und sie beugte den Kopf, bis ihre Stirn fast das Fenster berührte.
«Mein Onkel – er war eigentlich mehr ein grosser Bruder für mich und meine Geschwister. Meine Grosseltern starben jung, und als meine Mutter heiratete, brachte sie ihren kleinen Bruder mit in die Ehe. So sind wir zusammen aufgewachsen. Es war nicht leicht für Mathis, denn mein Vater war ein schwieriger Mann.» Sie hielt inne und begann, die Falten des Vorhanges zu ordnen. Christian wartete geduldig, er hatte eine gute Vorstellung von dem, was kommen musste.
«Wir waren nur drei Kinder, die Leute sagten, den Herrgott hätte es erbarmt, noch mehr Seelen in dieses Haus zu schicken. Mathis hat dafür gesorgt, dass es nicht allzu schlimm wurde, wenn der Vater …», sie brach ab, unfähig, das schmachvolle Geheimnis, das doch keines war, in Worte zu kleiden.
«Schon gut», meinte er leise. «Ich kann mir denken, was er getan hat. Er hat sich dazwischengestellt und die Schläge eingesteckt.»
Falls sie überrascht war, dass er den Satz hatte vollenden können, liess sie es sich nicht anmerken. Es war keine erstaunliche Leistung. Solch unglückliche Familien existierten überall auf der Welt.
«Irgendwann war Mathis einen Kopf grösser als der Vater. Er hätte sich wehren können, aber das hat er nie getan. Und es wurde immer schlimmer. Er hatte keine Lehre machen dürfen, und mein Vater hielt ihn wie einen Knecht. Das Einzige, was Mathis Freude machte, war Musik – wenn irgendwo aufgespielt wurde, so ist er dorthin gegangen und hat zugehört. Er hat nicht getanzt und nicht getrunken, er wollte nur die Musik hören. Im Dorf haben sie zwar gesagt, er wäre ein armer Teufel, aber geholfen hat ihm niemand. Selbst als der Vater ihm verbot, den Hof zu verlassen, hat niemand eingegriffen. Mathis durfte nicht zu den Nachbarn, ins Wirtshaus oder an ein Fest – nicht mal, wenn jemand ihn einlud, liess der Vater ihn gehen.»
Christian wartete, bis sie so weit war. Sie versenkte ihre Finger in den Falten des Vorhangs und holte tief Luft.
«Eines Tages war Frühlingsmarkt im Dorf. Unsere Nachbarin, Frau Hoffmann, lud mich ein mitzugehen. Ich nahm all mein Erspartes mit und kaufte dort eine Mundharmonika für Mathis. Ich dachte, so könnte er sich selbst Musik machen, und es wäre für ihn nicht so schlimm.» Ihre Schultern zuckten leicht in einer Geste zwischen Lachen und Weinen. «Ich weiss noch genau, wie ich mit dem Päckchen in der Hand den ganzen Weg von Frau Hoffmann nach Hause rannte, so aufgeregt war ich.» Sie machte eine Geste, als ob sie das kleine Instrument in ihrer Hand halten würde. «Es war bereits Abend, und ich dachte, Mathis würde am Hoftor auf mich warten, wie er das immer tat. Aber er war nicht dort, und so habe ich ihn überall gesucht. Ich fand ihn schliesslich im Stall …», sie brach ab und betrachtete ihre leere Hand. Dann neigte sie den Kopf gegen das Fenster, bis ihre Stirn das Glas berührte.
Christian brauchte nicht zu fragen, was genau sie im Stall vorgefunden hatte. Er würde nicht so schnell vergessen, wie sie vor Ammanns leblosem Körper gestanden war. Das war es also, eine Geschichte voller Härte und Grausamkeit. Wie kam man aus einem solchen Zuhause fort? Und wie konnte man den Erinnerungen entfliehen?
«Es tut mir sehr leid», sagte er leise.
«Meine Mutter war damals bereits krank, sie starb kurz darauf. Wir durften Mathis’ Namen nicht mehr in den Mund nehmen. Meinen Geschwistern fiel das nicht schwer. Mein Bruder sagte, Mathis hätte Schande über uns gebracht, und meine Schwester war wütend, weil damit ihre Aussichten auf eine gute Heirat dahin wären.» Sie richtete sich mit einem Ruck auf und drehte sich zu ihm um. «Das ist das Blut, das in meinen Adern fliesst.»
«In Ihnen fliesst auch das Blut Ihres Onkels und Ihrer Mutter.»
«Eine Frau, die zu schwach war, sich selbst und ihre Familie zu beschützen. Und ein Mann mit einem degenerierten Geist.» Sie blickte ihn herausfordernd an. «So sagt man jetzt doch von jenen, die sich umbringen, nicht wahr?»
«Das sind nur Worte, um die eigene Hilflosigkeit zu verbergen.»
«Und die eigene Schuld», brach es aus ihr hervor. «Sie haben es doch alle gewusst, und
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