Chili und Schokolade
ist hier aufgewachsen.
Arwed sanierte und renovierte das denkmalgeschützte Haus, nachdem er es vor dreißig Jahren geerbt hatte. Ein paar Jahre danach wurde ich als seine Sekretärin eingestellt. Inzwischen sind alle Etagen in Büros umgewandelt. Der Hierarchie entsprechend lenken Konrad und Arwed von oben die Büroangestellten und Architekten, die in den unteren Etagen an ihren Visionen arbeiten.
Über den ganz in Marmor gehaltenen Eingang gelange ich auf der rot ausgelegten Treppe zum Empfang im Hochparterre. Hier habe ich angefangen. Seit der letzten Weihnachtsfeier war ich allerdings nicht mehr in diesen Räumen. Doch jedes Mal, wenn ich die Stufen hinaufgehe, muss ich daran denken, wie Konrad und ich uns im Treppenhaus zum ersten Mal begegnet sind. Gleich am ersten Arbeitstag sah er mich an, als sei ich ihm direkt vor die Füße gefallen.
Immer noch sitzen am Empfangstresen junge Frauen. Eine brünette Schönheit telefoniert gerade, als ich an ihren Schreibtisch trete. Beiläufig hebt sie die Hand, um mir zu verstehen zu geben, dass ich mich einen Moment gedulden möge. Ihrem Geflüster nach flirtet sie gerade – mit wem auch immer. Kurz darauf kichert sie in den Hörer und streicht sich lasziv eine Strähne ihrer dunklen Lockenpracht hinters Ohr.
«Aber gerne doch, Herr Meyer, wird erledigt.»
Ich kann nicht glauben, dass sie gerade mit meinem Konrad spricht und bin entsprechend irritiert, als sie auflegt und sich an mich wendet: «Zu wem möchten Sie?»
«Ich bin Evelyn Meyer», antworte ich knapp.
Erschrocken zuckt sie zusammen: «Oh, Entschuldigung. Gerade habe ich mit Ihrem Mann gesprochen.»
Denkt sie, ich sei taub? Ich lege das Päckchen auf den glänzenden weißen Lacktisch. «Dann hat er sicher erwähnt, dass ich vorbeikomme und etwas für einen Kunden vorbeibringe?»
«Ja, natürlich … ähm, tut mir wirklich leid, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, Frau Meyer … ähm, aber ich bin erst seit drei Monaten hier», versucht sie stotternd ihre Fassung wiederzugewinnen.
«Schon gut», gehe ich nachsichtig lächelnd darüber hinweg und frage mich amüsiert: Wie sie mich erkennen sollte, wenn sie mich doch noch nie gesehen hat? Großmütig schreibe ich diesen Unsinn ihrer momentanen Verlegenheit zu und wende mich ab.
Doch als ich im Treppenhaus mein unscheinbares Bild in den halb blind gewordenen Spiegelwänden betrachte, überlege ich, ob sie mich anders behandelt hätte, wenn ich so elegant wie Carla gekleidet wäre. Wenn ich eine andere Haarfarbe hätte und statt dieser langweiligen hellgrauen Hosen-Pulli-Kombination und der schlichten dunkelblauen Steppjacke etwas Schickes tragen würde? Wenn ich so perfekt gestylt wäre wie Carla – meine Nachbarin hat bestimmt noch nie warten müssen und wird ganz sicher auch nicht so von oben herab behandelt.
Aber sehe ich wirklich schon so alt und faltig aus?
Als ich zu Hause ankomme, sehe ich lange mein Spiegelbild im Badezimmer an und fixiere die Linien um die Augenwinkel. Meine grauen Haare sind seit einer Weile immer zahlreicher, und bald werden sie nicht mehr zu übersehen sein. Ob Konrad mich zu alt findet? Immerhin flirtet er mit dieser jungen Sekretärin! Ob er ein Verhältnis mit dieser kleinen Sexbombe vom Empfang hat? Sollte ich Konrad einfach direkt fragen, ob er mich betrügt? Andererseits: Welcher Mann würde einen Betrug zugeben? Konrad auf keinen Fall! Der würde einen Seitensprung selbst dann noch leugnen, wenn ich ihn in flagranti ertappen würde. Sie war ja sichtlich verlegen, als ihr bewusst wurde, dass die Frau des Chefs ihr kleines Geplänkel mitgehört hat … Unsinn! Konrad mit seinen neunundfünfzig Jahren ist doch viel zu alt für so eine junge Frau – und er hat viel mehr graue Haare als ich. Aber Männer dürfen ja auch alt und grau werden. Wieso dürfen Frauen das eigentlich nicht?
Wie eine giftige Hornisse schwirrte diese Frage plötzlich in meinem Kopf herum. Und mir wird klar: Da hilft nur mein berühmter Schokoladenkuchen!
Konrad wird demnächst sechzig, murmle ich, während ich in der Küche alle Zutaten bereitstelle. Sind Männer in seinem Alter nicht besonders anfällig für jüngere Frauen? Für
sehr
viel jüngere Frauen. Ich wäre nicht die erste, die nach fünfundzwanzig Jahren verlassen wird, weil die Ehe langweilig geworden ist, schießt es mir durch den Sinn. Dass ich für meinen Mann den Beruf aufgegeben, die Kinder großgezogen und den Haushalt geführt habe, zählt heutzutage ja nicht
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