Chill mal, Frau Freitag
Achtklässlerinnen – alles nicht ihre Schuld. Geht sie alles nichts an. Nachts schläft sie wie ein Stein. Abschalten – für sie kein Problem. Wenn sie aus dem Schultor geht, ist sie Privatperson. An der eigenen Haustür hat sie schon vergessen, dass sie Lehrerin ist. Ich bewundere und beneide sie dafür. Warum fühle ich mich immer für alles verantwortlich?
Wenn Sabine zu spät zu Deutsch kommt, dann verstecke ich mich vor Frau Hinrich, damit ich nicht angemeckert werde. Wenn Samira und Ayla kein Sportzeug dabei haben, dann entschuldige ich mich schon vor dem Unterricht beim Fachlehrer. Wenn Murat und Justin bei mir eine Fünf geschrieben haben, dann rufe ich noch am gleichen Nachmittag ihre Eltern an und entschuldige mich dafür, dass ich ihren Söhnen nichts bei gebracht habe.
Nächstes Jahr muss ich wieder einen Brief an die Wirtschaft schreiben und bedauernd erklären, dass ich es wieder nicht geschafft habe, ausbildungsfähige Schulabgänger zu produzieren. Für die verkackten PISA-Ergebnisse habe ich mir einen Monat Stubenarrest verordnet. So, jetzt ist es raus. Und ich möchte nie mehr hören, die Schulen übernähmen keine Verantwortung für die Bildungsmisere.
Allerdings drücke ich mich nun schon seit Tagen wieder erfolgreich darum, einen Haufen Arbeiten zu korrigieren. Also eigentlich soll ich sie nicht korrigieren, sondern durchsehen und zensieren. Leider besteht diese Arbeit jedoch nicht nur aus Multiple-Choice-Aufgaben, sondern auch aus längeren Textpassagen. Die Schüler sollten sich zu einem bestimmten Thema äußern, und das sieht dann so aus, dass sie – unter enormem Zeitdruck – alles hinklieren, was ihnen zu diesem Thema einfällt. Sie denken vorher nicht nach, machen sich auf keinen Fall erst Notizen oder Stichpunkte zu dem, was sie eigentlich mitteilen wollen, sondern schleudern einfach alles aufs Papier. Von dieser Anstrengung sind sie dann so geschwächt, dass sie ihre Texte nicht noch einmal durchlesen können. Zitat Frau Dienstag: »Ich fühle mich bei der Durchsicht von Arbeiten wie ein Kanalarbeiter, der sich durch ihre Scheiße wühlt.«
Ich kann den Schülern noch so oft sagen, dass sie sich die Aufgaben genau durchlesen sollen und dann wirklich nur das hinschreiben sollen, wonach ich gefragt habe. Sie hauen mir doch wieder den ganzen unverdauten Wust an Fakten um die Ohren, den sie noch irgendwo aus ihren Hirnen herauskramen können. Und was soll ich bitte damit machen? Auf einer Seite Text steht dann bis zu 90 Prozent Murks, und nur zwei Sätze beantworten die gestellte Frage. Zählt das noch als fast richtig? Total falsch? Netter Versuch, leider daneben? Ich umkringele die zwei richtigen Sätze und schreibe daneben, dass da die richtige Antwort steht. Die Falschheit der Fakten um die beiden Sätze herum zwingt mich allerdings dazu, die Aufgabe mit null Punkten zu bewerten. Ist »fast richtig« nicht auch nur ein anderer Ausdruck für falsch? Auf jeden Fall sage ich ständig »fast richtig« und meine jedes Mal »falsch«.
Beim Korrigieren erinnere ich mich daran, wie ich mich fühlte, wenn ich als Schülerin eine Arbeit zurückbekommen habe. Manchmal hat meine Deutschlehrerin »GUT!« an den Rand geschrieben. Darüber habe ich mich immer sehr gefreut. Früher stand unter der Arbeit auch immer noch ein persönlicher Satz: »Du hast dir viel Mühe gegeben. Deine Charakterisierung ist dir gut gelungen.« Auch darüber habe ich mich gefreut. Aber was soll ich meinen Schülern unter eine Fünf schreiben? »Du hast dich zwar gar nicht bemüht, aber sieh es mal so: Es war ja die erste Arbeit, vielleicht lernst du für die nächste mal.« Oder: »Du hast Glück, nach oben ist alles offen.«
Manchmal amüsiere ich mich über den Wirrwarr, den die Schüler abgeben, aber meistens werde ich einfach wütend: »Oh, Sabine, was schreibst du da für einen Mist! Australien wurde doch nicht von Kolumbus entdeckt.« – »Super, Serçan, das wird dann wohl wieder eine Sechs, warum hast du denn nicht wenigstens versucht, die Schreibaufgabe zu machen?« Irgendwie sind einem die Schüler dann ganz nah. Wenn ich ihre kleinen kritzeligen Handschriften sehe, das hektisch Durch gestrichene, der rechts daneben geschriebene zweite Versuch, der genauso verquer ist wie der erste. Die Fahrigkeit am Ende der Arbeit, wenn sie dermaßen unter Stress geraten, dass die Handschrift immer größer wird und die Rechtschreibregeln jegliche Dringlichkeit verlieren.
Frau Dienstag hat recht: All die Probleme
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