Chill mal, Frau Freitag
Schülern befreunden.
Ich weiß noch nicht mal, was MSN ist.
Ich bin wahrscheinlich älter als deine Mama.
Wenn du dir jetzt wirklich in die Hose machst, kaufe ich dir in der Pause eine Cola.
Ach ihr Armen, ihr habt noch drei Stunden … Ich gehe jetzt nach Hause.
Nein, ich fahre nicht weg.
Ja, ich fahre in den Winterurlaub.
Wooochenendeee!
Nimm du doch meine Klasse …
Die Kollegen meckern wieder. Gestern komme ich ins Lehrerzimmer und werde bombardiert mit: »Deine Klasse spinnt ja wohl.« Vorher hatte ich eine Stunde in meiner Klasse und alle kamen relativ pünktlich, haben sich gut benommen und sogar friedlich gearbeitet. Weil die Stimmung gut war, kamen auch diverse Schüler zu mir, um mir ihre Probleme zu erzählen. Und die sind – gelinde gesagt – massiv. Da geht es um Krasseres, als kein Prinzessinnenschloss von Playmobil zum Geburtstag zu bekommen oder eine Woche nicht fernsehen zu dürfen. Solche Probleme hat keiner meiner Kollegen. Ich kann es immer gar nicht fassen, was die erleben – erleben müssen. Normale Jugend ist das nicht. Ich wundere mich eigentlich oft, dass die trotz dieses harten Aufwachsens relativ normal ticken.
Da droht bei einigen Mädchen die Zwangsheirat im Geburtsland der Großeltern, Alkohol- und Drogenkonsum mancher Eltern gefährdet die »Erziehungsarbeit« zu Hause, und ich hatte sogar schon Schüler, deren Vater oder Mutter ermordet wurde. Jeder Psychologe würde sagen, dass ein Totaldurchdrehen bei solchen Erlebnissen durchaus normal wäre.
Manchmal wünschte ich, die Schüler würden mir dieses ganze Elend nicht erzählen. Aber passieren würde es ihnen ja trotzdem, nur ich könnte abends besser abschalten und nachts ruhiger schlafen.
Recht geschockt gehe ich also ins Lehrerzimmer und werde gleich belagert: »Die haben wieder, die haben nicht, keine Hausaufgaben … blabla.« Ich höre mir alles an und lasse es irgendwie an mir abprallen oder eher an mir runterrutschen. Stoisch stehe ich da, während mich zwei Kolleginnen mit Gejammer und Beschwerden übergießen. An manchen Stellen sage ich: »Hmmm … Ja … Gibt’s ja gar nicht …« Ich verspreche, mit meiner Klasse zu reden, und beschließe in dem Moment schon, mal gar nichts zu machen. Warum soll ich meine Klasse dauernd anmeckern? Nützt doch sowieso nichts. Fräulein Krise sagt mir ja fast täglich, dass es egal ist, ob man meckert, Briefe schreibt oder die Schüler pädagogisch einlullt. Ändern tut das nichts.
Meine Klasse kann ja gut mitmachen. Das weiß ich, und das haben mir die Kollegen auch schon oft gesagt. Warum die das so selten machen, weiß kein Mensch. Aber eines weiß ich: Wenn ich sie am Mittwoch anmeckere oder rumjammere, dann benehmen sie sich am Freitag nicht automatisch besser.
Vielleicht sollten die Kollegen die Schüler mehr loben, wenn sie gut mitmachen. Die immer mit ihrem »Nicht gemeckert ist genug gelobt«. Oder sollte ich denen mal erzählen, was bei den Schülern privat los ist – und dass eine nicht gemachte Hausaufgabe dazu in keinerlei Relation steht? Ich weiß es nicht. Es gibt natürlich noch die Ich-bin-Klassenlehrer-und-ich-verstecke-mich-immer-Taktik. Einige Kollegen – vor allem solche, die schwierige Klassen haben – sehe ich überhaupt nicht im Lehrerzimmer. Oder ich biete den Meckerkollegen meine Klasse an: »Du hast recht. Die benehmen sich total schlecht. Das liegt an mir. Ich hab es einfach nicht drauf. Übernimm du meine Klasse. Du könntest die bestimmt auf den richtigen Weg bringen. Zug reinbringen. Tacheles reden. Mal richtig durchgreifen. Ich wundere mich sowieso, warum DU nicht Klassenlehrerin bist, wo du doch so viel kompetenter bist als ich.«
Oder die paradoxe Intervention: »Ja, die sind total übel. Das war ganz schön harte Arbeit, die so hinzukriegen. Bei mir benehmen sie sich gut, aber ich sage denen täglich, dass sie bloß nicht bei den Kollegen mitmachen sollen. Schminken tut ihr euch bitte in Mathe und vergesst nicht, bei Frau Schwalle so richtig die Sau rauszulassen. Immer dran denken: ziviler Ungehorsam – immer und überall!«
Ich geb’s ja offen zu: Ich bin schuld!
Frau Dienstag regt sich selten auf. Sie ist unheimlich anpassungsfähig. Selbst Schulschließungen bringen sie nicht aus dem Konzept. Bisher wurde jede Schule, an der sie gearbeitet hat, geschlossen. Dass es an ihr liegen könnte, darauf kommt sie gar nicht.
Muss eine Schülerin von ihr in die Psychiatrie, dann hat sie damit nichts zu tun. Trinkende Mütter, schwangere
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