Chill mal, Frau Freitag
benutzt.
»Soso, meinst du wirklich, dieses Schimpfwort ist so schlimm, dass sich jemand darüber ärgert?«
Meistens fällt ihnen darauf nichts mehr ein, und sie fragen etwas verunsichert: »Was heißt es denn?«
»Na, kleiner Vogel heißt es jedenfalls nicht. Aber benutz ruhig weiter Wörter, deren Bedeutung du nicht kennst, das zeugt von unheimlicher Intelligenz.«
Damit lasse ich sie stehen, und wahrscheinlich flüstern sie mir ein »Ist die hässlich!« oder »Hurentochter!« hinterher. Was eine Hurentochter ist, wissen sie alle.
Ich weiß, es wird einmal ein Wunder
geschehen …
… jemand, der was zu entscheiden hat, wird auf mich zukommen und mir folgende erlösende Sätze sagen: »Liebe Frau Freitag, kümmern Sie sich jetzt mal nicht so sehr um die Schulleistungen der Schüler. Auch die Fehlzeiten sind nicht so wichtig, dann kommen die Schüler eben zu spät, was soll’s? Wir hatten neulich einen Bildungsgipfel, und dort haben wir mit großer Mehrheit beschlossen, dass Leistung nicht mehr zählt. Nehmen wir doch mal Sie, liebe Frau Freitag. Wir beobachten Sie nun schon seit einiger Zeit …«
»Echt?«
»Ja. Und wir sehen ja, wie Sie sich täglich abmühen, den Schülern was beizubringen. Und auch wir haben bemerkt, wie wenig bei denen hängen bleibt. Nun seien wir mal ehrlich: Was ist das für eine Verschwendung Ihrer Lebenszeit! Sie rackern sich ab für nichts und wieder nichts. Deshalb bin ich froh, Ihnen ganz offiziell mitteilen zu dürfen, dass sich jetzt alles ändern wird. Rahmenpläne laufen aus. Die Benotung wird abgeschafft. Es wird keine Zeugnisse mehr geben. Sie können den Tag mit den Jugendlichen gestalten, wie Sie wollen. Tun Sie sich da keinen Zwang an. Gehen Sie jeden Tag Schlittschuhlaufen, ins Kino, kochen Sie, tanzen Sie mit den Schülern, machen Sie eine Radiosendung. Wenn die Schüler keine Lust haben, in die Schule zu kommen, dann dürfen sie ruhig zu Hause bleiben. Sie können gehen, wann sie wollen. Und keine Sorge, wir arbeiten auch gerade an den schriftlichen Ausführungen. Demnächst geht eine Ausführungsverordnung dazu an alle Schulen. Unter uns gesagt: Wir haben ja mit Ihrer Schülerklientel sowieso noch nie irgendwelche hochtrabenden Ziele verfolgt. Aber wir sehen jetzt, dass wir Sie und Ihre Kollegen nicht länger dafür verantwortlich machen dürfen. Ich persönlich kann mir gar nicht vorstellen, wie das sein muss, jeden Tag diese Schüler zu unterrichten, der ganze Druck, sie zu einem Schulabschluss zu bringen, und dann kommt so wenig dabei raus. Das muss doch sehr frustrierend sein, oder?«
»Hmmm.«
»Ja, liebe Frau Freitag, sehen Sie, wir lassen Sie nicht im Regen stehen. Die Reformen werden die Schullandschaft verändern. Und wir brauchen doch gar nicht so viele Menschen mit guten Ausbildungen, es gibt ja gar nicht genügend Jobs. Da müssen wir uns auch nicht vormachen, dass Ihre Klientel mit diesen halbgaren Realschulabschlüssen irgendwas zu unserer Gesellschaft beitragen kann. Muss sie ja auch gar nicht. Funktioniert doch auch so. Nur, dass nicht mehr alle so frustriert sind. Die Schüler nicht, weil sie sich nun mit den Dingen beschäftigen können, die Ihnen wirklich Spaß machen. Und die Lehrer werden zufriedener sein, weil sie nach einem Vormittag zwischen Pokern und Schal-Stricken mit interessierten Schülern glücklich nach Hause gehen können. Na, was halten Sie davon?«
»Klingt gut. Aber ich kann das gar nicht so recht glauben. Ab wann sollen denn diese Veränderungen kommen?«
»Meines Wissens gilt das ab sofort, äh, unverzüglich. Und nun gucken Sie nicht so entsetzt, Frau Freitag, gehen Sie erst mal schön nach Hause, nehmen Sie ein Bad, trinken Sie einen Tee und dann können Sie schon mal anfangen, ihre Unterrichtsmaterialien zu schreddern. Die brauchen Sie nicht mehr. Ach, und habe ich erwähnt, dass die Ferien verlängert werden? Um jeweils eine Woche. Das haben Sie sich verdient.«
Wenn ich so überlege, dann finde ich schon, dass ich ein Recht auf diese Arbeitserleichterungen hätte. Vielleicht sind wir Lehrer doch nicht für alles verantwortlich. Ist denn der Busfahrer dafür verantwortlich, wenn Herr Meier nicht in den Bus steigt, deshalb zu spät zur Arbeit kommt und dann seinen Job verliert? Die Schule ist eben keine Castingshow – oder doch? Wer trägt denn eigentlich die Verantwortung für das Gelingen und das Scheitern in diesem ganzen Wirrwarr? Ich kann doch nur Angebote machen. Ich kann doch nur den Tisch schön decken und
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